Die Sommer

Leyla ist das Kind eines ezidischen Vaters, der mit 14 Jahren in die Kommunistische Partei Syriens eintrat, und einer deutschen Mutter. Gemeinsam gingen sie nach München, wo Leyla aufwächst. Jedes Jahr fährt sie mit ihrer Familie in den syrischen Teil Kurdistans, als Kind erlebt sie die Sommer im Dorf der Großmutter, später, als der IS große Teile Aleppos zerstört, betrachtet sie alles fassungslos aus der Ferne. Sie ist zerrissen zwischen Distanz und Verbundenheit mit den Orten ihrer Kindheit – sie kann nicht zusehen, wie ihre deutschen Freundinnen auf Facebook fröhlich Urlaubsbilder posten, während an anderen Orten Tag für Tag so Vieles zerstört wird. Ein Roman über die Liebe zu Orten, die durch Gewalt im Verschwinden begriffen sind, über die Wut und den Schmerz, der sich über Erinnerungen legt, zwischen dem Hier und Dort, dem Vergangenen und der Zukunft.

 

Warum lesen?

Leyla hat viele biographische Parallelen zur Autorin, auch sie verbrachte an der Seite ihrer Eltern viele Sommer in Kurdistan im Dorf ihrer Großmutter, auch das Geburtsjahr der Protagonistin ist an das der Autorin angelehnt. Ronya Othmann erinnert daran, dass wir alle miteinander verbunden sind und somit auch mitverantwortlich sind für die Welt, in der wir leben werden.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Desintegriert euch

/ 2018

Max Czollek schreibt an gegen das in Deutschland immer weiter nach rechts driftende Klima. Er schreibt aus einer jüdischen Perspektive gegen die Vereinnahmung der Opfer der Shoah durch die Täter*innen und deren Nachkommen, gegen ritualisiertes Gedenken, das oft vor allem den Täter*innen und ihren Nachkommen nützt. »Desintegriert euch!« geht dem Bild auf den Grund, das die BRD von sich selbst entwirft: Das der geläuterten Nation, die gelernt, entschädigt und gutgemacht hat. Er hält dem entgegen, dass nichts wieder je gut sein kann nach Auschwitz. Max Czollek bleibt unversöhnlich und will Rache, sei es auch nur literarisch.

Der Autor schreibt an gegen die »endlich wieder wer sein können«-Rufe auf der Straße bei Sportereignissen, gegen Integrationszwang, Leitkulturgerede und ein nationales Selbstverständnis, das sich anmaßt, Zugehörigkeit anhand völkischer Vorstellungen bestimmen zu wollen.

 

Warum lesen?

Das Buch ist der Aufruf sich zusammenzuschließen und Bündnisse gegen den weiß-deutschen Mainstream zu knüpfen, sich die Erinnerung, die Geschichte und das Gedenken zurückzuholen und diesen nicht den Täter*innen zu überlassen.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

WTF Berlin

/ 2022

Die Autorin kommt aus Großbritannien und lebt seit 20 Jahren in Berlin. In WTF Berlin teilt sie ihre Beobachtungen aus 20 Jahren in herrlich witzigen, feministischen Texten. Wer bereits »Die schlechteste Hausfrau der Welt« oder ihre Kolumnen im Missy Magazin gelesen hat, weiß bereits, dass Jacinta Nandi so schreibt, dass man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen und ihr zu lauschen, wie sie schnell und schlagfertig mit Worten um sich wirft.

Im Unterschied zu ihren anderen beiden Büchern ist WTF Berlin auf Englisch geschrieben, was aber einen besonderen Reiz hat, wenn sie deutsche Begriffe erklärt. Die Reise beginnt bei »Abendbrot« und hangelt sich das Alphabet entlang wie in einem Wörterbuch: Von »Abtreibung« über »Erziehung« , »Migrationshintergrund«, »Reizwäsche“ und »Spielplatz« bis »Zecke“ und vielen anderen Begriffen dazwischen. Mehrdeutigkeiten, Übersetzungs- und Erklärungsverwirrungen und Entirrungen vom Feinsten! Auch wunderbar zum Vorlesen und Sich-Freuen über Jacinta Nandis Texte, die easy daherkommen, aber der »deep shit« steckt immer mit drin!

 

Warum lesen?

Jacinta Nandi erklärt uns Berlin – aber eigentlich greift der Titel viel zu kurz – sie erklärt deutsche Selbstverständlichkeiten so, dass man einerseits sehr viel lachen muss und sich andererseits fragt, warum zur Hölle einer selbst das bisher nicht aufgefallen ist.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Eure Heimat ist unser Albtraum

/ 2019

Heimat finden, Heimat haben, heimatlos sein, viele Schriftsteller*innen haben sich schon mit Heimat beschäftigt. Welche Vorstellungen haben wir von Heimat und wer ist eigentlich wir?

Das Buch »Eure Heimat ist unser Albtraum« ist der Widerstand derjenigen, die vom Konzept der Heimat ausgeschlossen werden – und so lautet auch die Widmung der Autor*innen: »Für Uns«. Es beginnt mit einer Einordnung der aktuellen Erweckung des Heimatbegriffs und der damit verbundenen Gefühle und Annahmen. Weiter geht es mit Alltagssituationen, in denen auffällt, dass anscheinend selbstverständlich Menschen davon ausgeschlossen sind, mitgedacht und gemeint zu werden. Die Schlüsse, die die Texte zulassen, sind eindeutig: Die Vorstellung des bundesdeutschen »Wir« ist immer noch vor allem an rassistische Kriterien geknüpft: Aussehen, Sprache, Religion.

 

Warum lesen?

Fatma Aydemir, Max Czollek, Sharon Dodua Otoo, Margarete Stokowski und acht weitere Autor*innen schreiben von Sichtbarkeit, von Arbeit und deren Wert, sie schreiben über Sprache, Blicke, Zuhause und Gegenwartsbewältigung. Es wird deutlich, dass Heimat immer völkisch gedacht und rassistisch genutzt wird – von Nationalist*innen wie von vielen Menschen, die sich für neutral halten und meinen, eine vermeintliche »Mitte« zu repräsentieren.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Eine Formalie in Kiew

/ 2021

»Mir brauch'n jetzt nür nöch eine arneuerde Gebürdsürgünde un eine Abösdille von Ihn'n.« Das sind Frau Kunzes Worte, Sachbearbeiterin auf der Leipziger Ausländerbehörde, bei der sich Dmitrij eingefunden hat, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Statt Residenzpflicht, die seinen Wohnort innerhalb Sachsens festlegt, Freizügigkeit. Statt der zukünftigen Vermieterin den ukrainischen Pass vorzulegen, die sich daraufhin fast belogen fühlt, als ob er sie durch Sprache und Aussehen habe täuschen wollen, einfach das Papier mit dem Bundesadler auf den Tisch legen. Reisen können in fast alle Länder der Welt! Nun, Geburtsurkunde in Übersetzung, Loyalitätserklärung zur deutschen Verfassung, Einkommensnachweis – alles ist für den Einbürgerungsantrag eingereicht. Außer der noch fehlenden Apostille, in Frau Kunzes Erklärung: Die behördliche Bestätigung einer behördlichen Bestätigung der nächsthöheren Behörde. Wo diese erhältlich ist? Nur in der Ukraine.

 

Warum lesen?

Die autobiografische Erzählung ist unglaublich witzig und unterhaltsam und Dmitrij Kapitelman flicht gesellschaftliche und politische Verhältnisse, sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine ein und verbindet alles zusammen mit seiner jüdisch-ukrainisch-deutschen-Familiengeschichte. Ein Buch, das viel zu schnell ausgelesen ist, sich wunderbar zum Vorlesen eignet und die Leser*innen zum Schmunzeln, Ärgern, Kopfschütteln und Nachdenken bringt.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Dschinns

/ 2022

Hüseyin, du bist 59 Jahre alt, die letzten 30 davon hast du in der Metallfabrik gearbeitet. 1971 kamst du, aus einem Dorf im Osten der Türkei, nach Süddeutschland. Du hattest dir ein neues Leben erhofft, ein Zuhause, aber die Einsamkeit blieb. Und du arbeitetest drei Schichten, am Sonntag, an den Feiertagen. Du warst dir nie zu schade, alle Arbeiten, die kein Deutscher machen wollte, hast du übernommen.

Nun bist du in Istanbul, endlich hast du es geschafft, du hast eine Wohnung von deinen Ersparnissen dort gekauft. Die Wohnung in Istanbul soll der langersehnte Ort sein, an dem du Zuhause bist, mit deiner Frau Emine, sie und die Kinder sollen in ein paar Tagen eintreffen.

Das ist der Ausgangspunkt von Fatma Aydemirs Roman, in dem sie ein Bild der Neunzigerjahre in Deutschland komponiert; er ist eine vielschichtige Erzählung von den Sehnsüchten, Gewissheiten und dem Alltag türkischer Migrant*innen, die über das Anwerbeabkommen mit der Türkei in den Siebziger Jahren nach Deutschland gekommen sind, die wieder gehen sollten und wollten und trotzdem blieben, deren Kinder in Deutschland aufwuchsen und dessen selbstverständlicher Teil sie heute sind.

 

 

Warum lesen?

Auch in ihrem zweiten Roman gelingt es Fatma Aydemir, Alltäglichkeiten so eindringlich zu erzählen, dass man am Ende das Gefühl hat, die Romanfiguren tatsächlich kennengelernt zu haben.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!