»Von Gott und der Welt verlassen«. Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan

/ 2015

Die Bedeutung Fritz Bauers für die Geschichte der BRD wurde lange unterschätzt. Erst in den 2010ern gab es eine ganze Fülle an Fernseh- und Kinofilmen über das Leben des hessischen Generalstaatsanwalts, der die Frankfurter Auschwitz-Prozesse auf den Weg brachte. Bauers unermüdliche Arbeit als »Aufklärer, Humanist und Volkspädagoge«, der daran glaubte, dass eine produktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der BRD möglich sei, wies ihn als öffentliche Person als einen »an die Erziehbarkeit des Menschen glaubenden Optimist« aus, so Werner Renz in der Einleitung. Bauers überlieferte Briefe zwischen April 1962 und Mai 1968 an Thomas Harlan zeugen von der vorsichtigen Annäherung hin zu einer fast innigen Freundschaft mit den damit einhergehenden Enttäuschungen und Entfremdungen. mehr

1965 beantwortete Bauer einen »Wunschzettel« Harlans über Protokolle zum Auschwitzverfahren, die Harlan offensichtlich für seine literarische Arbeit verwenden wollte. Die poetologische Aussage Bauers darf vielleicht auch für die literarischen Werke Harlans aus den 2000ern gelten: »Du überschätzt alle diese Protokolle. […] Was ist Wahrheit?? Die verdichtete, die dichterische Wahrheit ist wohl viel tiefer als die der Protokolle.«

Warum lesen?

Werner Renz und Jean-Pierre Stephan haben die Briefe mit Einführungen zu den beiden Personen und Anmerkungen zu jedem Brief versehen. Durch die fehlenden Gegenbriefe hinterlässt der »Briefwechsel« viele Fragen und Lücken, gleichzeitig entwirft er aber ein neues und genaueres privates Bild von Fritz Bauer als all die Spiel- und Fernsehfilme.

Auf der Liste: Thomas Harlans Täterliteratur

Auf der Suche nach einer Auseinandersetzung mit den Massenmorden der Shoah im vermeintlich Unsagbaren

Heldenfriedhof

/ 2006

Thomas Harlans Roman »Heldenfriedhof« von 2006 beginnt mit dem Fund von 15 Leichen auf einem Soldatenfriedhof in der Nähe von Triest. Die Toten sind allesamt Täter der »Aktion Reinhardt«, die den Massenmord in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka und zuletzt im Konzentrationslager Risiera di San Sabba organisierten und durchführten. Im Roman bringen sie sich um, als man in der BRD beginnt, sich strafrechtlich für ihre Taten zu interessieren. Während der kollektive Selbstmord Fiktion ist, erzählt der Roman collagenhaft mit Zitaten aus Erinnerungen, Tagebüchern und Protokollen reale Ereignisse.

Warum lesen?

Durch seinen Zusammenprall von historischer Wirklichkeit, fantastischen Verfremdungen und herausfordernder Erzählweise ist »Heldenfriedhof« ein außergewöhnlicher Roman, der in seiner Rezeption zurecht in die Nähe von Claude Lanzmanns »Shoah« gerückt werden kann, da Harlan mehr als historiographisch nach der Wahrheit der Verbrechen und ihrer Folgen suchend schreibt.

Auf der Liste: Thomas Harlans Täterliteratur

Auf der Suche nach einer Auseinandersetzung mit den Massenmorden der Shoah im vermeintlich Unsagbaren

Thomas Harlan. Das Gesicht deines Feindes. Ein deutsches Leben

/ 2007

»Sie sind am 19. Februar 1929 geboren …«

»Das fängt ja schön an!«

Als Sohn des Regisseurs Veit Harlan ist Thomas Harlan in unmittelbarer Nähe zu Hitler und Goebbels aufgewachsen (die Neuauflage des Buches bei Rowohlt wählt daher den Titel: »Hitler war meine Mitgift«). 1953 filmt er mit Klaus Kinski in Israel. Nach dem Theaterstück »Ich selbst und kein Engel« (1958) recherchiert er in den 1960ern in Polen zu den Verbrechen der deutschen Täter. Mit »Torre Bela« (1975) dreht er einen Film während der portugiesischen Nelkenrevolution. Bei dem Film »Wundkanal« (1984) gelingt ihm, dass der verurteilte Täter SS-Obersturmbannführer Alfred Filbert selbst einen Täter spielt. Schließlich schreibt er in den letzten Jahren seines Lebens die Romane »Rosa« und »Heldenfriedhof« und den Erzählband »Die Stadt Ys« und kehrt damit zurück zum Schreiben, über das er sagt: »Schreiben: sich treiben lassen, denn getrieben war ich ohnehin seit dem 16. Lebensjahr, seit ich erfahren hatte, wes Kind ich war, wes Geistes Kind […]«

Warum lesen

Das Gespräch, das Jean-Pierre Stephan mit Thomas Harlan über dessen Leben führt, ist so etwas Ähnliches wie eine Autobiografie. Zugleich sperrt sich Harlan gegen alle Zuschreibungen und eine einfache, lineare Lebensbeschreibung. Stephan hat es geschafft, von Harlan unglaublich aufschlussreiche und originelle Sätze zu erfahren. Harlan gibt viel von sich preis, ist dabei in seiner Sprache sehr genau und möchte gar nie sich selbst in den Vordergrund stellen. Zudem hat Stephan akribisch Hintergrundinformationen und den historischen Kontext recherchiert, was den Leser*innen eine Menge Umwege zu unzuverlässigen Quellen erspart.

Auf der Liste: Thomas Harlans Täterliteratur

Auf der Suche nach einer Auseinandersetzung mit den Massenmorden der Shoah im vermeintlich Unsagbaren

Rosa

/ 2000

Im Jahr 2000 veröffentlichte Thomas Harlan seinen ersten Roman: »Rosa«. Schwerlich nur lässt sich das Buch auf eine Handlungsebene herunterbrechen. Vielmehr ist es ein Ineinandergreifen unterschiedlichster Handlungsstränge, die wieder und wieder neue Zugänge verweigern. Im Mittelpunkt steht dennoch die Titel gebende Figur Rosa, die mit ihrem Partner Jozef in einem Erdloch auf einer Lichtung im polnischen Wald lebt. Eher zufällig trifft ein Filmteam auf die beiden, während es versucht, zu den Verbrechen der Deutschen in Polen während der Besatzung zu recherchieren. Unter Verwendung und gleichzeitiger Teilfiktionalisierung von Materialien, die Harlan selbst Anfang der 1960er Jahre in Polen recherchierte, wird der Blick freigelegt auf die Ermordung der Jüdinnen und Juden durch die Deutschen im Lager Chelmno/Kulmhof.

Warum lesen?

Thomas Harlan beginnt mit »Rosa«, was er mit »Heldenfriedhof« fortführt: die Auseinandersetzung mit deutscher Täterschaft. Wie kein anderer deutschsprachiger Autor wendet er seinen Blick auf die Verbrechen. Sowohl in »Rosa« als auch in »Heldenfriedhof« sucht Harlan nach sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und ästhetischen Umformungen, die die Verbrechen der Shoah unvermittelt vermittelbar machen.

Auf der Liste: Thomas Harlans Täterliteratur

Auf der Suche nach einer Auseinandersetzung mit den Massenmorden der Shoah im vermeintlich Unsagbaren