Auf Erden sind wir kurz grandios

/ 4. Juni 2019
On earth we're briefly gorgeous. Übersetzt aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag

Der Brief eines Sohnes an eine Mutter. Der Brief eines Sohnes, der Wortzusammenhänge schaffen kann, dass man innehalten muss beim Lesen, Luft schnappen, an eine Mutter, die nicht lesen kann. Ocean Vuong erinnert sich, eigentlich an die Liebe. Obwohl die Liebe oft nicht schön ist, auf den ersten Blick, in diesen Geschichten. Wie seine Mutter ihn schlug, um ihm beizubringen, sich gegen andere zu wehren, weil sie ihm nicht helfen konnte, eine Fremde in diesem Land. An die schizophrene Großmutter, die ein Stück Vietnam für ihn aufbewahrt. An den amerikanischen Jungen, den er liebte, und der tragischerweise starb.

 

Warum lesen?
Weil Ocean Vuong zaubern kann. Weil der Roman ein Gedicht ist, was so nicht stimmt, es ist ein Werk, das alle Genre-Grenzen überschreitet. Weil er so liebevoll von Gewalt erzählt, dass mir das Herz zerreißt. Weil einmal lesen nicht reicht (ich habe es drei Mal gelesen, direkt hintereinander.)

Auf der Liste: Erinnern und Schreiben. Oder Schreiben und Erinnern.

Fünf grandiose Bücher, in denen die Erinnerung zur Protagonistin wird.

Nach dem Gedächtnis

/ 8. Dezember 2017
Pamjati pamjati. Übersetzt aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Aus Fundstücken schafft Maria Stepanova ein literarisches Meisterwerk, aus Erinnerungen ein historisches Porträt, aus einem Rechercheprozess einen thematisch unfassbar weit verzweigten Essay, aus Worten eine eigene Sprache. Die Autorin macht sich auf die Suche nach der Geschichte ihrer russisch-jüdisch-europäischen Familie, nimmt die Lesenden mit auf die Recherchereise genau so wie in die eigenen Gedanken- und Verstehensprozesse und in die Frage hinein: Was Gedächtnis bedeutet, und wozu es uns verpflichtet.

 

Warum lesen?
Weil ich kaum Texte kenne, die so weit und so tief und so voll sind gleichermaßen. Dass man gar nicht weiß, was man zuerst erfassen könnte: Die kunstvolle Sprache, die Gedankenprozesse, die Fragen zwischen den Zeilen oder die Mosaikstücke europäischer Geschichte. Man muss sich Zeit nehmen für diesen Roman, man muss ihn Zeile für Zeile l-e-s-e-n. Genau in dieser Langsamkeit, in diesem Respekt.

Auf der Liste: Erinnern und Schreiben. Oder Schreiben und Erinnern.

Fünf grandiose Bücher, in denen die Erinnerung zur Protagonistin wird.