Desintegriert euch

/ 2018

Max Czollek schreibt an gegen das in Deutschland immer weiter nach rechts driftende Klima. Er schreibt aus einer jüdischen Perspektive gegen die Vereinnahmung der Opfer der Shoah durch die Täter*innen und deren Nachkommen, gegen ritualisiertes Gedenken, das oft vor allem den Täter*innen und ihren Nachkommen nützt. »Desintegriert euch!« geht dem Bild auf den Grund, das die BRD von sich selbst entwirft: Das der geläuterten Nation, die gelernt, entschädigt und gutgemacht hat. Er hält dem entgegen, dass nichts wieder je gut sein kann nach Auschwitz. Max Czollek bleibt unversöhnlich und will Rache, sei es auch nur literarisch.

Der Autor schreibt an gegen die »endlich wieder wer sein können«-Rufe auf der Straße bei Sportereignissen, gegen Integrationszwang, Leitkulturgerede und ein nationales Selbstverständnis, das sich anmaßt, Zugehörigkeit anhand völkischer Vorstellungen bestimmen zu wollen.

 

Warum lesen?

Das Buch ist der Aufruf sich zusammenzuschließen und Bündnisse gegen den weiß-deutschen Mainstream zu knüpfen, sich die Erinnerung, die Geschichte und das Gedenken zurückzuholen und diesen nicht den Täter*innen zu überlassen.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Am Anfang war der Beutel

/ 2021

Immer wieder wurde mir in den letzten beiden Jahren der Name der amerikanischen Science-Fiction-Autorin, Lyrikerin, Prosaautorin und wunderbaren Essayistin zugetragen. Sie gilt mittlerweile nicht nur bei transversalen Denker*innen neben Donna Haraway und Anna Loewenhaupt Tsing als Theoretikerin des Anthropozäns. Ihr Text über die »Tragetaschentheorie des Erzählens« ist eine Aufforderung an uns, auch literarisch andere Wege zu gehen als die des Jagens, Eroberns und Unterwerfens, es ist eine Vorahnung darauf, wie anders auch die Literatur werden muss, will sie nicht Teil des Problems bleiben, das uns in Form von einer multiplen Krise umgibt. Und dazu gilt es, wie so oft, nicht in die Zukunft zu blicken, sondern in die Vorvergangenheit, die uns mehr Optionen bieten kann als wir uns vorstellen mögen. Es ist das Buch zur degrowth-Stunde. Es ist die Abkehr vom Wachstumsimperativ und die ist möglich, wenn wir anfangen, sie zu denken.

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Die Kunst, sich zu verlieren

/ 2020

Rebecca Solnit hat in »Die Kunst, sich zu verlieren« einen essayistischen Weg eingeschlagen und hilft mir dabei, mein Interesse an diesen nonlinearen, unplotbaren Büchern zu verstehen. Irrgärten der Literatur sind auch heute notwendig, allerdings offene Irrgärten, die eine zwangsläufige Logik haben oder wie eine Landschaft sind, in der man sich verlieren möchte, um den Weg als jemand anders wieder herauszufinden. So Solnit. Ihre sinnlich aufgeladene essayistische Komposition träumt darin wiederholt vom »Blau der Ferne«, das als Sehnsuchtsabstraktion ein wiederkehrendes und sehr sinnlich aufgeladenes variantenreiches Motiv des Buches ist. Ein Gegenbild des Sich-Verlierens. Am stärksten noch ist mir der Eingangsessay in Erinnerung, »Offene Tür«, meine Conclusio: »Die Kunst, in der Irre zu Hause zu sein« gehört letztendlich zu jenen Fähigkeiten, »die mir eine Atempause von meiner eigenen Lebensgeschichte verschaffen, wo ich, um mit Benjamin zu sprechen, mich verirrt, mich verloren habe, obwohl ich weiß, wo ich bin.«

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

A Restricted Country

/ 1988

In dieser Sammlung aus Essays und Kurzgeschichten widmet sich die US-amerikanische Autorin Themen wie der Solidarität zwischen Schwarzen und jüdischen Aktivist*innen in den USA, Butch-Femme-Dynamiken, den Feminist Sex Wars oder dem Verhältnis zwischen Lesben und Sexarbeiter*innen. Queeres Begehren als Drive für politische Kämpfe, aber auch die Macht der Erinnerung spielen eine zentrale Rolle. Wenn Joan Nestle als Mitbegründerin des Lesbian Herstory Archives NYC die Relevanz von Archiven in feministischen und queeren Aktivismen betont, weiß sie, wovon sie spricht. Besonders queere Geschichtsschreibung ist wichtig zu dokumentieren und zu erhalten, weil viel Wissen durch systematisches Auslöschen verloren geht. Ihre Texte sind nicht leicht zu beschaffen, aber umso wichtiger, besonders, wenn es um lesbisch-feministisches Leben in der McCarthy-Ära geht.

 

Warum lesen?

Joan Nestle ist eine der wichtigsten lesbischen Autor*innen und hat mich sehr stark beeinflusst. Leider sind ihre Texte nur in kleinen feministischen Verlagen erschienen, weswegen sie heute als gedrucktes Buch rare Ware sind. Während der Feminist Sex Wars versuchten Anti-Porno-Aktivistinnen, ihre Arbeit zu zensieren und sie beispielsweise von Publikationen oder Konferenzen auszuschließen – auch diese Konflikte lassen sich bei ihr nachlesen.

Auf der Liste: Unverschämtes Verlangen

Queeres Begehren in der Literatur

Kein Platz mehr

/ 2018

Margit Schreiner schreibt Romane, die eigentlich Essays sind. Persönliche, scheinbar banale Begebenheiten werden raffiniert zu weltanschaulichen, äußerst klugen Feststellungen verquickt. Es geht um ihre Dachkammer, in der sie herumrobben muss; um die Zeit in Japan, wo riesige Möbel in winzigen Häusern stehen; um Freunde, die verzweifelt versuchen, ihre Häuser zu leeren. Heraus kommt ein nüchtern komischer Text, in dem die ganze Welt ihr Fett abbekommt, weil nirgendwo genug Platz ist – nicht einmal auf dem Friedhof. So viel Witz, Klugheit, feine Ironie und Beobachtungsgabe gibt es selten in einem Buch (so wie in allen ihren Büchern).

Auf der Liste: Das Politische im Privaten – österreichische Autorinnen