»Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte«

/ 2021

 

Stella Leder, die 1982 im Berliner Westen geboren wurde, erzählt in ihrer autobiografischen Erzählung eine multiperspektivische deutsch-jüdische Familiengeschichte, die Ost- und Westdeutschland verbindet: Ihr Großvater war der Schriftsteller Stephan Hermlin, die Mutter Bettina Leder wuchs in der DDR auf, reiste aber 1977 aus. Sie ist – wie bereits der Titel anzeigt – eine zentrale Bezugsfigur, aber auch die Rechten, denen Leder immer wieder begegnet. Der Mann im Garten steht für die Erinnerung, die schemenhaft, allgegenwärtig und doch unzuverlässig scheint, aber auch für die verwobenen historischen Schichten, denn er ist – zumindest in der Imagination des Kindes – gleichzeitig Stasi- und SA-Mann. Leder entwickelt das Verhältnis zur Mutter nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern als eines zwischen den Generationen: Während die zweite eine Generation der Archivare sei, die die Geschichte von Shoah und Nationalsozialismus erforsche und zum konkurrenzlosen Fixpunkt ihres Lebens mache, dabei aber doch leise und unsichtbar blieb, sei die dritte Generation eine laute. Laut ist Leders Buch nicht, aber klar und präzise – nicht nur in seinen Analysen, sondern vor allem in den szenischen Beschreibungen, in denen das postnationalsozialistische Deutschland so deutlich vor Augen tritt, dass es keines erläuternden Kommentars mehr bedarf.

Warum lesen?

Weil Leders ost-west-deutsche Familienerzählung neue Perspektiven eröffnet: Die »Baseballschlägerjahre‘ fanden eben nicht nur im Osten, sondern auch in der hessischen Peripherie statt. Die Nazis sind nicht zurückgekommen, sie waren nie (ganz) weg. Das Buch bietet eine scharfe Analyse der Generationenverhältnisse einer deutsch-jüdischen Familie nach der Shoah sowie der antisemitischen Ressentiments in Ost- und Westdeutschland, die Leder auch auf eine anhaltende Schuld- und Erinnerungsabwehr zurückführt.

[Lea Wohl von Haselberg]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»A replacement life«

/ 2014

 

Debütroman des 1979 in Minsk geborenen Autors. Der Protagonist Slawa ist ein sowjetisch-jüdischer Einwanderer in New York und ein aufstrebender junger Autor bei einem hochkarätigen New Yorker Magazin (einem fiktiven New Yorker oder Harpers). Nach dem Tod seiner Großmutter wird Slawa von seinem Großvater angestiftet, sein literarisches Talent dafür zu nutzen, gefälschte Shoah-Biografien für diesen und andere russisch-jüdische Einwanderer zu schreiben, damit sie Entschädigungsansprüche geltend machen können. Während Slawa darum ringt, die komplexen Erfahrungen und Verhaltensweisen der Generation seiner Großeltern (geprägt von Weltkrieg, Shoah, Antisemitismus und Korruption in der sowjetischen Gesellschaft) zu verstehen, hinterfragt er seine eigene Identität im Verhältnis zur amerikanischen und amerikanisch-jüdischen Gegenwart, in der er sein eigenes Leben führt.

Warum lesen?

Fishmans Roman beschäftigt sich mit Kernthemen der Shoah-Erinnerung und der Migration in der dritten Generation sowie mit tiefgreifenden Fragen nach Authentizität und Aneignung. Es ist ein humorvolles und ehrliches Buch, das uns herausfordert, über Fiktion als Rache, als Wiedergutmachung oder als Form von Gerechtigkeit nachzudenken.

[Jonathan Skolnik]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Fluchten«

/ 2022

 

Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren und später in Hamburg aufgewachsen, lebt seit einigen Jahren als freier Autor in der Schweiz. Er schreibt für verschiedene deutschsprachige Zeitungen und veröffentlicht Sammlungen kurzer, kürzerer und kürzester Texte mit klingenden Titeln wie Handwörterbuch der russischen Seele (2021). Fluchten ist bereits seine siebte Buchveröffentlichung und widmet sich dem titelgebenden, hochaktuellen Thema aus allen nur erdenklichen menschlichen Perspektiven. Unter dem spürbaren Eindruck des Angriffskrieges in der Ukraine stehen historische Fluchtgeschichten neben Alltagserfahrungen, skurrile Begebenheiten wechseln sich ab mit tragischen Schicksalen. Die Textsorten wechseln munter zwischen Kurzgeschichte, Anekdote, Parabel und Witz. Fluchten lässt sich ebenso nach- wie durcheinander lesen. Dabei treten die einzelnen Texte auf ganz unterschiedliche Weise in ein Gespräch ein, das von Fluchtlinien und Fliehkräften durchzogen ist – mal sehr konkret, mal eher metaphorisch. Die über den Band verteilten, geometrischen Ausschnitte aus abstrakten Gemälden von Nikolai Estis ergänzen diese Konversation der Texte um einen intermedialen, intergenerationellen Dialog zwischen Kunst und Literatur, zwischen Vater und Sohn.

Warum lesen?

Weil die Literatur der dritten Generation nicht nur aus autobiografischen Familienromanen und der Suche nach den eigenen Wurzeln besteht und weil Alexander Estis ein literarisch überzeugendes Plädoyer für die kleine Form liefert, bei der reichlich Raum für eigene Gedanken und überraschende Korrespondenzen bleibt.

[Sebastian Schirrmeister]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»broken german«

/ 2016

 

Tomer Gardis Roman fällt auf mehreren Ebenen aus dem Rahmen einer etablierten Sprache und Literatur und sorgt für zahlreiche Irritationen. Das von der Kritik kontrovers diskutierte, »fehlerhafte« Deutsch auf der einen Seite, die Figurenverwirrung, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und textinterner Realität, die Wendungen und Narrationsbrüche sowie die Vermischung verschiedener Textsorten auf der anderen Seite – all diese Besonderheiten des Romans zeigen, dass sowohl der Autor als auch sein Text diverse Austritte aus tradierten (Kultur-)Diskursen literarisch realisieren und zum Thema machen. Broken German erzählt in Form von kurzen, nicht chronologisch aufgebauten Episoden von einer Vielzahl von Figuren, die sich wie der unzuverlässige Erzähler in einem dezidiert (post)migrantischen Berlin bewegen und sich mit Fragen kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten auseinandersetzen.

Warum lesen?

Gardi und seine Erzählfiguren kommen gleichsam »von außen« in die deutsche Sprache und Literatur. Dabei geben sie ihre Außenseiterposition nicht preis, sondern machen gerade diese zu ihrer wesentlichen literarischen Waffe, mit der sie Möglichkeiten des Sprechens, Schreibens über Vergangenheit und Gegenwart erweitern und bereichern. Der die Normen der (Schrift-)Sprache missachtende Prosatext dekonstruiert das Paradigma der deutschen »Leitkultur« und unterläuft das »Reinheitsgebot« der Sprache als Garant einer gelungenen Integration.

[Anna Rutka]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Vielleicht Esther«

/ 2014

 

Mit ihrem Debüt hat die 1970 in Kiew geborene Autorin ein faszinierendes Kaleidoskop autobiografischer Geschichten vorgelegt. Es handelt sich um ein Buch über den Versuch einer Rückkehr wie auch über das Reisen und Suchen in den Trümmerfeldern der eigenen jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte. Die Nachverfolgung der weit verteilten Spuren dieser Geschichte führt die Erzählerin nicht nur in ihre Heimatstadt Kiew, in der auch die titelgebende – und auf dem Bachmann-Wettbewerb 2014 preisgekrönte – Episode über ihre von den Nazis ermordete jüdische Großmutter situiert ist, sondern ebenso nach Berlin, Warschau, Moskau, Odessa und Mauthausen. Petrowskaja hat ein sehr persönliches Buch geschrieben, doch finden sich darin auch allgemeine Erfahrungen, etwa der Recherche in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung, in höchst einprägsamer Weise dargestellt. Vor allem aber ist es ein Buch über den Zauber der Vermischung von Sprachen, insofern sich die Erzählerin immer wieder von sehr subjektiven Assoziationen russischer, ukrainische, griechischer und deutscher Begrifflichkeiten leiten lässt und hierbei in nachgerade zauberhafter Weise neue Formen des Sagens und Beschreibens findet.

Warum lesen?

Weil die Vielfalt der Zusammenhänge, Orte und Perspektiven, die Petrowskaja in ihrem Erstling zusammengefügt hat, immer wieder neue Lektürewege ermöglicht. Dies gilt gerade auch für ihre Sicht auf die Ukraine und Russland, die heute, in Zeiten eines weiteren erbitterten Krieges, eine Differenzierung des Blicks ermöglicht, wie sie im allgemeinen Schwarzweiß der Kriegsberichterstattung allzu schnell verloren zu gehen droht.

[Andree Michaelis-König]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Ewig her und gar nicht wahr«

/ 2020

 

Ein in Fragmenten erzähltes, fragmentarisch bleibendes Buch, das zwischen verschiedenen Zeiten, Orten und Sprachen springen muss, um eine jüdische Familiengeschichte in Bessarabien, Usbekistan, Moldawien, Rumänien, Berlin und Israel zu skizzieren. So entstehen Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Generationen zwischen der Flucht vor den vorrückenden deutschen Truppen 1941, der Rückkehr und der erneuten Migration nach 1990. Leitmotivisch kreist die Erzählerin dabei um das ebenso individuelle wie transgenerationelle Gefühl der Verlorenheit, des Nichtverstehens und des Nichtverstandenwerdens. Eine gemeinsame Sprache dafür finden die Familienmitglieder kaum, mehr als einmal treten fremdsprachige Lied- und Gedichtfetzen an die Stelle kohärenter Kommunikation. Die Aufgabe zu verstehen wird so von der Erzählerin auch an die Leser*innen weitergegeben.

Warum lesen?

Weil die Erzählerin in ihrer nationalen, territorialen und sprachlichen Unzugehörigkeit schließlich Halt in einem rumänischen Zitat ihres Landsmannes Paul Celan findet, das weder sie noch ihre durchschnittlichen deutschen Leser*innen verstehen. Und wegen des ebenso flapsigen wie abgründigen Satzes „Zum Glück konnte Celan auch Deutsch“, der dazu auffordert, die transkulturellen Verflechtungen deutsch-jüdischer Literaturgeschichte im Lichte aktueller postmigrantischer Schreibpositionen neu zu reflektieren.

[Esther Kilchmann]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Adas Raum«

/ 2021

 

In diesem Roman begegnen wir Ada 1459 zu Beginn der portugiesischen Kolonialherrschaft in dem Land, das heute Ghana genannt wird, 1848 als Mathematikerin in einer Affäre mit Charles Dickens in London, 1945 als Zwangsprostituierte in einem Konzentrationslager und 2019 auf Wohnungssuche in Berlin. Ada wird durch diese (Zeit)Räume hinweg von einem Wesen begleitet, das verschiedene Objekte bewohnt, aber keinen eigenen Körper besitzt. Den kann es erst erlangen, wenn es das wertvolle Armband Adas an den richtigen Ort bringt. Das Gelingen dieser Aufgabe scheitert immer wieder an den Lebensumständen Adas, die in jedem Jahrhundert mit Herausforderungen kämpft, die sie zuletzt ihr Leben kosten: die Erwartung des Mutterseins, die Ansprüche der Männer und die Gewalt des historischen Moments. Der Umgang mit der Vergangenheit wird in diesem Roman transkulturell aufbereitet und in Schleifen miteinander verknüpft. Adas Schicksale erschließen Unterdrückungserfahrungen von Frauen auf verschiedene Weise (als Opfer der Kolonialherren oder der Nazis, als vom Patriarchat eingeschränkte weiße Angehörige der Oberklasse oder als Schwarze Person in Europa) und erweitern damit das Verständnis von Erinnerungskultur um die unentwirrbaren Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Holocaust sowie das notwendige Miteinander von Feminismus und Antirassismus.

Warum lesen?

Weil die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten der Vergangenheit unser Verständnis von Erinnerungskultur erweitern und deutlich machen, wie diese transkulturellen Phänomene auf unsere Gegenwart einwirken.

[Joela Jacobs]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Konzert für die Unerschrockenen«

/ 2013

 

In ihrem autofiktionalen Debütroman entwirft Bettina Spoerri, 1968 in Zürich geboren, die Porträts zweier Frauen aus zwei Generationen. Als ihre Großtante Leah stirbt, fährt Anna von Zürich nach London zur Beerdigung und erhält dort Leahs Tagebücher. Im Folgenden wechselt die Erzählung zwischen Annas Alltag in London, Zürich und Berlin und Leahs Leben als Jüdin und Cellistin zwischen Wien, Shanghai, Palästina und England. Die Ich-Erzählerin Anna integriert in den Text Einschübe aus Leahs Tagebüchern, setzt Schilderungen alter Fotografien in Form sprachlicher Ekphrasis ein und rekurriert auf Anton Tschechows Prosa, Max Rothkos Bilder und die skulpturalen Installationen Rebecca Horns. Zugleich ruft sie Szenen und Erinnerungsbilder aus ihrem Gedächtnis ab, die den wenigen Gesprächen mit der Großtante sowie Erinnerungen an Konzerte und Leahs Cellospiel gelten. Vor dem Hintergrund der Erinnerungsarbeit wird auf der Gegenwartsebene des Romans auch Annas Porträt entworfen.

Warum lesen?

Weil aus dem Erinnerungsarchiv ein lebendiges Bild einer außergewöhnlichen Frau entsteht, die nach der Shoah in Musik und Kunst ein Mittel fand, der Katastrophe zu begegnen, und weil in Spoerris Text die Kunst zum Medium wird, das Wichtigste, oft kaum Aussprechbare auszudrücken.

[Małgorzata Dubrowska]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Der Russe ist einer, der Birken liebt«

/ 2012

 

In ihrem Erstlingsroman entwirft die 1984 in Baku geborene Autorin ein vielfältiges Ensemble transkultureller und polyglotter Figuren, in dessen Zentrum die Protagonistin Masha steht. Genau wie ihre (post)migrantischen Freund*innen konterkariert sie mit diversen kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten vermeintlich eindeutige nationale, kulturelle und religiöse Identitäten sowie traditionelle Gender-Modelle und sexuelle Orientierungen. Neben der Auflösung statischer Identitätszuschreibungen handelt die Geschichte von der gemeinsamen polyphonen Sprachlosigkeit der Figuren und von individuellen Traumata. Handlungstreibendes und zugleich retraumatisierendes Moment ist dabei der überraschende Tod des Lebenspartners der Ich-Erzählerin, der sie veranlasst, von Frankfurt nach Tel-Aviv und ins Westjordanland zu reisen, wo sie von ihren unvermittelten Erinnerungen an die Pogrome des Bergkarabach-Konflikts, die sie als Kind miterlebt hat, eingeholt wird. In Flashbacks werden Erinnerungsbruchstücke mit der erzählten Gegenwart überblendet und so mündet die Erzählung in eine Orientierungslosigkeit, in der trennscharfe Grenzen nicht nur zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Zuschreibungen verschwimmen.

Warum lesen?

Weil das Buch im Kontext individueller Migrationserfahrungen ein pointiertes transkulturelles Geflecht traumatischer Referenz- und Fluchtpunkte zur Darstellung bringt, in dem nationale und kulturelle Grenzen an Gültigkeit verloren haben und es radikal dazu auffordert, gesellschaftlich tradierte Zuschreibung neu zu befragen.

[Joshua Biro]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Gewässer im Ziplock«

/ 2023

 

Die fünfzehnjährige Margarita wächst bei ihrem israelischen Vater, dem Kantor Avi, in Berlin auf. Die Sommer verbringt sie meistens bei ihren Großeltern in Chicago und langweilt sich dort fürchterlich ohne ihre Freunde. Mit der Langeweile ist es vorbei, als sie zu ihrer Mutter Masha nach Israel fliegt – die sie seit Kleinkindertagen nicht mehr gesehen hat und die prompt die Verabredung am Flughafen vergisst. In der Konfrontation der drei Generationen von Jüdinnen zwischen Israel, Nordamerika und Europa, zwischen traumatischer Vergangenheit und dem Gefühlschaos eines Teenagers stellt sich für Margarita schließlich die Frage, was eigentlich jüdische Identität ist. Gleichzeitig muss sich aber auch Avi die Frage stellen, wie er als Israeli und praktizierender Jude in Berlin leben möchte.

Warum lesen?

Weil das Buch aus der glaubhaft dargestellten Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens die jüdische Gegenwart in den 2020er-Jahren schildert. Dabei entwickelt diedialogzentrierte, schnelle Erzählung zunehmend einen eigensinnigen Humor. Auch findet der Text immer wieder poetische Formulierungen wie den Titel »Gewässer im Ziplock« – Tränen, verschüttete Coca Cola auf der Hose, die verschiedenen Ozeane oder nur eine rauschende Dusche? Alles verschwimmt im ständigen Zustand des Unterwegsseins und gerinnt zu Erinnerungen, die schließlich in einen Ziplockbeutel passen. Wer sich für eine zeitgemäße literarische Darstellung der dritten Generation nach der Shoah interessiert, muss diesen Roman lesen.

[Caspar Battegay]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Die Enkelin oder Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste«

/ 2013

 

In ihrer autobiografischen Erzählung schildert Channah Trzebiner, 1981 in Frankfurt/Main geboren und aufgewachsen, was es für sie bedeutet, als Enkelin von Shoah-Überlebenden »ein Ersatz für ermordetes Leben zu sein.« Im Zentrum ihres Interesses steht die Darstellung transgenerationeller Traumatisierung und ihrer Auswirkungen auf die zweite und vor allem die dritte Generation. In dialogreichen Alltagsszenen – teilweise auf Jiddisch und Englisch – beschreibt Trzebiner ihr von omnipräsenten Erinnerungen an die Shoah geprägtes Familienleben. Das Buch stellt den Versuch einer Benennung ihrer Traumatisierung durch das Trauma der Großeltern dar und damit auch der Befreiung von der Allgegenwärtigkeit der Geschichte der Shoah, die die Ich-Erzählerin-Autorin wie ein »schwarzes Loch« in sich fühlt. Zudem nimmt Trzebiners Nachdenken über die Folgen der Shoah auch die Nachkommen der Täter*innen und Zuschauer*innen des Nationalsozialismus in den Blick, wobei ihr Bewusstsein der gegenwärtigen Wirksamkeit der Vergangenheit sie wiederholt in Konflikt mit nichtjüdischen Deutschen ihrer Generation bringt, die vermeiden oder versäumen, sich für die eigenen Familiengeschichten zu interessieren.

Warum lesen?

Weil dieser autobiografische Bericht über die transgenerationell spürbaren Folgen der Shoah begreifbar macht, wie dringlich die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgung und Ermordung auch für die dritte Generation sein kann. Und weil Trzebiner nicht nur ihre eigene Position als Enkelin von Überlebenden verständlich macht, sondern sich auch um ein Verständnis der Folgen des Schweigens auf der »anderen Seite« bemüht.

[Luisa Banki]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

Von Maulwürfen und Mutanten. Die Sache mit der Rache

/ 2021

»Synapsen – ein Wissenschaftspodcast«
mit Korinna Hennig/Sebastian Schirrmeister

Wozu ist Rache eigentlich gut? Sebastian Schirrmeister erforscht diese Frage aus der Perspektive der Literaturwissenschaft.

Auf der Liste:

Writing Revenge

/ 2022

English / Yiddish

»What do you think of when you hear the word revenge?

A tit for tat? The old law about an eye for an eye leaves everybody blind….

And what do you think of when you hear about Jewish revenge?

About Shimshon? About Shylock?

One definition of revenge explains that Vengeance is man's answer to injustice suffered.

In the last moments of their lives the persecuted and tortured Jews cried out for revenge.

Considering the horrific crimes committed towards the Jewish people, what could have

been an appropriate response to the sadistic murder of six million people?

Where has all this desperate energy gone?«

Auf der Liste:

Rache. Geschichte und Fantasie: Rache in jüdischer Gegenwartsliteratur

/ 2022

In der siebten und letzten Folge des Podcasts »Rache. Geschichte und Fantasie« unterhalten sich Max Czollek, Lyriker und Ideengeber der gleichnamigen Ausstellung und Museumsdirektorin Mirjam Wenzel mit Sebastian Schirrmeister. Er ist Literaturwissenschaftler, Lektor und Übersetzer und forscht u.a. zum Thema Rache in der Gegenwartsliteratur von jüdischen Autor*innen.

Für den Ausstellungskatalog hat Sebastian Schirrmeister einen Essay mit dem Titel »Wo, wenn nicht hier?« verfasst, der sich mit Rachefantasien und -handlungen in literarischen Texten jüdischer Autor*innen während und nach der Schoa beschäftigt. Ist Rache ein Thema der Diaspora? Welche Vorstellungen von Gerechtigkeit kommen in den verschiedenen Texten zum Ausdruck? Und vor allem: Wie gehen sie mit den judenfeindlichen Fremdzuschreibungen um, die das Thema Rache kennzeichnen? Zur Sprache kommen zahlreiche Klassiker, aber auch weniger bekannte Werke zeitgenössischer Autor*innen – von Maxim Billers »Der gebrauchte Jude«, Romain Garys »Der Tanz des Dschingis Cohn«, Rivka Kerens »Anatomie einer Rache« über Friedrich Torbergs »Mein ist die Rache« bis hin zu William Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig«. Warum dessen Shylock-Figur und der wohl bekannteste Rache-Monolog der Literatur nicht Bestandteil der Ausstellung ist – auch darüber wird in diesem Podcast diskutiert.

Für den Ausstellungskatalog hat Sebastian Schirrmeister einen Essay mit dem Titel »Wo, wenn nicht hier?« verfasst, der sich mit Rachefantasien und -handlungen in literarischen Texten jüdischer Autor*innen während und nach der Schoa beschäftigt.

Auf der Liste:

Broken Hebrew. Poetic Incursions in the National ›War‹ for Linguistic Normativity

/ 2022

Artikel in: »Zukunft der Sprache – Zukunft der Nation? Verhandlungen des Jiddischen und Jüdischen im Kontext der Czernowitzer Sprachkonferenz«
Carmen Reichert, Bettina Bannasch und Alfred Wildfeuer (Hg.)

Die Czernowitzer Sprachkonferenz, auf der hitzig über die Zukunft des Jiddischen debattiert wurde, gilt als wichtiger Durchbruch für die Entwicklung des Jiddischen. Sie ist zugleich einer der Höhepunkte in den Diskussionen um Sprachen und Nationen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Mittel- und Osteuropa geführt wurde. In der innerjüdischen Debatte stellte sich die Frage, ob Jiddisch – neben Hebräisch – eine der oder sogar die nationale jüdische Sprache sein soll. Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen danach, welche Vorstellungen von nationalen Sprachen und Literaturen diese Auseinandersetzungen prägten. Wie gliedert sich die Czernowitzer Sprachkonferenz in die nationale Frage in Österreich-Ungarn ein? Welche Bedeutung hatte die Konferenz jenseits des Jiddischismus? Wie schlug sich die Sprachdebatte in den jüdischen Literaturen Mittel- und Osteuropas nieder? Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Ukraine, Tschechien, Polen, Kanada, der Schweiz und Deutschland gehen diesen Fragen aus den Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen nach.

Auf der Liste:

Von Lücken und Brücken. Leerstellen, Abwesenheiten und narrative Nähe in Texten der dritten Generation

/ 2023

Artikel in: »Positions of the Third Generation / Positionen der dritten Generation«
Luisa Banki und Sebastian Schirrmeister (Hg.)

Auf der Liste:

Gegentheater

/ 2023

Artikel in: »Literarische Interventionen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945«
Robert Forkel und Bianca Patricia Pick (Hg.)

Erinnerungs- und Identitätsbedürfnisse verschaffen sich seit jeher Ausdruck in der Literatur. Diese versteht sich dabei immer auch als Dialogangebot. Aber inwieweit gilt das für den deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs? Und welche Rolle nimmt die Literatur ein, wenn es sich um eine literarisierte Versöhnungsverweigerung handelt? Die Beiträger*innen präsentieren und kommentieren subjektive Stimmen, die sich an den Grundfragen der Erinnerungskultur abarbeiten und dabei Differenzen innerhalb einer erinnerungskulturellen Gemeinschaft kommunizieren. Die versammelten exemplarischen Analysen zeigen: Literatur kann ein Ort sein, um anders über Versöhnung zu sprechen.

Auf der Liste:

Begegnung auf fremder Erde. Verschränkungen deutsch- und hebräischsprachiger Literatur in Palästina/Israel nach 1933

/ 2019

Deutschsprachige Literatur jüdischer Autor*innen in Palästina/Israel galt lange als Schwanengesang der ‚deutsch-jüdischen Symbiose‘. Dieses Buch nimmt eine neue Perspektive ein, sieht sie als Teil des »Jewish literary complex« (Dan Miron) und fragt nach ihrer Beziehung zum hebräischen Literaturbetrieb. Basierend auf umfangreichen Archivrecherchen sucht die Studie drei deutsch-hebräische Konstellationen auf: in der Anthologie, in der Übersetzung und in der variantenreichen Erzählung der Einwanderung. Die untersuchten Texte (u.a. von Max Brod, M. Y. Ben-Gavriêl, Josef Kastein, Baruch Kurzweil und Amos Oz) erweisen sich dabei als kritische Auseinandersetzung mit dem »zionistischen Masternarrativ« (Gershon Shaked) von der sozialen und kulturellen Erlösung des jüdischen Volkes im Gelobten Land.

Auf der Liste:

Das Gastspiel. Friedrich Lobe und das hebräische Theater 1933–1950

/ 2012

Ein deutsch-jüdischer Theateremigrant im Palästina der 1930er und 1940er Jahre
Friedrich Lobe (1889–1958) gehörte zu den wenigen aus Deutschland geflüchteten Theatermachern, die im hebräischen Theater in Palästina Fuß fassen konnten. Nach seiner Einwanderung 1933 für eine erste Inszenierung von Dantons Tod am Tel Aviver Arbeitertheater Ohel engagiert, führte Lobe bis zu seiner Rückkehr nach Europa 1950 bei dreißig Produktionen Regie, veröffentlichte zahlreiche Zeitungsartikel und schrieb nicht zuletzt zwölf eigene dramatische Texte.

Auf Grundlage umfangreicher Archivrecherchen untersucht Sebastian Schirrmeister erstmals die besonderen Konstellationen, die sich aus Lobes Emigration nach Palästina ergaben und die sich in seinen Aktivitäten und Texten widerspiegeln: Ein arrivierter deutscher Theaterkünstler traf auf ein im Aufbau befindliches, von russischen Emigranten und zionistischer Ideologie beherrschtes hebräisches Theater. Er musste sich in der neuen Umgebung, die sich im Spannungsfeld von Migration, Kulturtransfer und der Konstruktionsarbeit an einer neuen Nationalkultur konstituierte, behaupten. Ein einst bekannter Schauspieler wurde, der Sprache des Landes nicht mächtig, zum Dramatiker und konnte nur mithilfe von Übersetzung und Maskerade Eingang in das bereits besetzte kulturelle Feld finden.

Die Tatsache, dass Lobe bislang weder im deutschen noch im israelischen Forschungskontext Beachtung fand, ist sicherlich der Unmöglichkeit einer eindeutigen nationalen Zuordnung seines Wirkens, seiner ambivalenten Position ‚zwischen allen Stühlen‘ geschuldet.

Auf der Liste:

A guide for the perplexed. Exploring the German-Jewish archives at the National Library of Israel

/ 2024

Artikel in: »Jewish Culture and History«
Joachim Schlör, Tony Kushner und Daniela Ozacky Stern (Edition)

The National Library of Israel holds more than 200 personal archives and collections of German-Jewish intellectuals from the 19th and 20th century. In 2021/2022, a joint project with the University of Hamburg catalogued and digitized 24 of the most important holdings. This article surveys the complex characteristics of the material and points to its significance for scholarship through three exemplary dimensions: personal entanglements, multilingualism, and migration histories. It also addresses the challenges of accessing and managing more than 700,000 digital images and shows the potentials they hold for future research. The article serves as an introduction to this special issue.

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