Die Sommer

Leyla ist das Kind eines ezidischen Vaters, der mit 14 Jahren in die Kommunistische Partei Syriens eintrat, und einer deutschen Mutter. Gemeinsam gingen sie nach München, wo Leyla aufwächst. Jedes Jahr fährt sie mit ihrer Familie in den syrischen Teil Kurdistans, als Kind erlebt sie die Sommer im Dorf der Großmutter, später, als der IS große Teile Aleppos zerstört, betrachtet sie alles fassungslos aus der Ferne. Sie ist zerrissen zwischen Distanz und Verbundenheit mit den Orten ihrer Kindheit – sie kann nicht zusehen, wie ihre deutschen Freundinnen auf Facebook fröhlich Urlaubsbilder posten, während an anderen Orten Tag für Tag so Vieles zerstört wird. Ein Roman über die Liebe zu Orten, die durch Gewalt im Verschwinden begriffen sind, über die Wut und den Schmerz, der sich über Erinnerungen legt, zwischen dem Hier und Dort, dem Vergangenen und der Zukunft.

 

Warum lesen?

Leyla hat viele biographische Parallelen zur Autorin, auch sie verbrachte an der Seite ihrer Eltern viele Sommer in Kurdistan im Dorf ihrer Großmutter, auch das Geburtsjahr der Protagonistin ist an das der Autorin angelehnt. Ronya Othmann erinnert daran, dass wir alle miteinander verbunden sind und somit auch mitverantwortlich sind für die Welt, in der wir leben werden.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Mensch ausser sich

/ 2022

Valère Novarinas Mensch »Ausser sich« ist ein Theatertext, der gleichzeitig wie bei ihm üblich weit darüber hinausgeht oder den Begriff des Theatertextes neu definiert. Ein Langgedicht könnte man auch sagen oder ein ausgeschriebener Raum mit Lücken. Er arbeitet mit Listen, Wiederholungen, Litaneien, vertraut auf die Kraft der Anrufung und die absurdesten ausgedachten Grammatiken und Namen. Man könnte freilich sagen, es melden sich Stimmen zu Wort, die ich sagen, aber hier klingt das so: »Ich war Erdarbeiter bei Hans Städtisch, Rausschmeißer bei Rohling, Club-Retter in Sommerfrisch, Aufspürer in München-Pasing, Gerichtsaufspürer bei den Leuten-Abdrängern«. Prekarisierte Figuren, die eben nicht einfach »ich« sagen können, an den Rand gedrängte, mit den Instanzen - transzendent oder real - Hadernde. Der französische Theaterautor, der mir wie eine Mischung aus Ernst Jandl und Elfriede Jelinek und Jean Dubuffet vorkommt, stellt eine aberwitzige Aufgabe für seinen Übersetzer Leopold von Verschuer dar, der hier mehr zu einem Koliteraten wird. Und man ist erstaunt, wie etwas gleichzeitig derart aus der Zeit gefallen wirken kann und gleichzeitig voll da, einen Raum schaffend, der jenseits narratologischer Üblichkeiten voller Spannung ist. Und es wundert nicht, dass wir darin 1624 fiktive grammatische Zeiten finden, darin »die ferne Gegenwart, das Futur Inaktiv, die Vordermöglichkeit und den Inkonditional, sowie den Verfallsdatal.«

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Die Kunst, sich zu verlieren

/ 2020

Rebecca Solnit hat in »Die Kunst, sich zu verlieren« einen essayistischen Weg eingeschlagen und hilft mir dabei, mein Interesse an diesen nonlinearen, unplotbaren Büchern zu verstehen. Irrgärten der Literatur sind auch heute notwendig, allerdings offene Irrgärten, die eine zwangsläufige Logik haben oder wie eine Landschaft sind, in der man sich verlieren möchte, um den Weg als jemand anders wieder herauszufinden. So Solnit. Ihre sinnlich aufgeladene essayistische Komposition träumt darin wiederholt vom »Blau der Ferne«, das als Sehnsuchtsabstraktion ein wiederkehrendes und sehr sinnlich aufgeladenes variantenreiches Motiv des Buches ist. Ein Gegenbild des Sich-Verlierens. Am stärksten noch ist mir der Eingangsessay in Erinnerung, »Offene Tür«, meine Conclusio: »Die Kunst, in der Irre zu Hause zu sein« gehört letztendlich zu jenen Fähigkeiten, »die mir eine Atempause von meiner eigenen Lebensgeschichte verschaffen, wo ich, um mit Benjamin zu sprechen, mich verirrt, mich verloren habe, obwohl ich weiß, wo ich bin.«

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang