Juan S. Guse

The Fall of the House of Usher

/ 1890

Das erste Mal las ich „House of Usher“ nicht, sondern hörte es auf meinem MP-3-Player während ich als Zivildienstleistender Badezimmer putzte, und ich weiß noch, dass ich am Ende vor einem Waschbecken stehen blieb und mich fragte: Was? Dabei ist die Handlung simpel: Ein Ich-Erzähler besucht einen alten, adligen Freund namens Roderick Usher, der in einem zusehends verfallenden Anwesen lebt. Er ist schwer krank und wirr und bittet den Erzähler ihn nicht allein zu lassen. Während des Aufenthalts stirbt Ushers Zwillingsschwester und wird im Keller begraben. Zum Einschlafen liest der Erzähler seinem Freund eine Rittergeschichte vor, die ihn beruhigen soll. Doch mit jedem gelesenen Wort mehren sich angsteinflößende Geräusche im Haus, werden immer lauter, bis plötzlich die Schwester blutüberströmt in der Tür steht und sich sterbend auf ihren Bruder wirft – sie war lebend beerdigt worden. Der Erzähler flieht, das Anwesen wird von der Erde verschlungen. Was? Na genau das: ein herrliches Gemisch aus kosmologischer Gothik, übernatürlichem Horror und prä-lovecraftscher Weirdness.

 

 

Tlön, Uqbar, Orbis Tertius

/ 1940

blieb mit dem Eindruck zurück, sie wahrscheinlich nicht richtig verstanden zu haben. Als ich sie einige Jahre später wieder las, stellte sich dasselbe Gefühl der Überforderung und Verwirrung ein – nur diesmal war es schöner. Die Kurzgeschichte handelte von einem Autor namens Borges, der bei seinen Recherchen auf das geheimnisvolle, unbekannte Land Uqbar stößt, das irgendwo in Kleinasien gelegen haben soll. Borges verschreibt sich daraufhin der Suche in Archiven nach weiteren Hinweisen zur Existenz dieses Ortes und seiner Menschen. Der gesamte Text wird zum Raum voller Falltüren, die sich im Zuge dieser Suche öffnen und schließen. Es geht um unvollständige und sich wiedersprechende Enzyklopädien, es geht um das fantastische Reich Tlön, auf das sich alle Schriften Uqbars beziehen, um das Vermischen realer und fiktiver Quellen, um den radikalen Idealismus von Tlön, um eine imaginäre Sprachen ohne Substantive und um einen geheimen Orden namens Orbis Tertius aus dem 17. Jahrhundert, der möglicherweise Tlön und Uqbar erfunden hat, um die Wirklichkeit sukzessiv durch Fiktion zu ersetzen. Das alles kriegt Borges in 5.600 Wörtern unter, in einer Erzählung ohne die Texte wie Mark Z. Danielewskis „House of Leaves“ nicht denkbar scheinen.

Pájaros en la boca

/ 2008

Im Jahr 2013 hospitierte ich drei Monate im Suhrkamp-Lektorat. In meiner letzten Woche schenkte mir Frank Wegener, damals Programmleiter für Internationale Literatur, zum Abschied Samanta Schweblins ersten Erzählband, der als „Die Wahrheit über die Zukunft“ auf Deutsch erschienen war. Ich inhalierte das Buch noch am selben Abend. Die für die spanische Originalausgabe namensgebende Erzählung hat sich mir dabei am stärksten ins Gedächtnis gebrannt; und das, obwohl sie nur wenige Seiten lang ist. Sie handelt von einem Vater, der seit Jahren von seiner Frau getrennt lebt. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, die sich merkwürdig verhält: Sie isst lebendige Vögel. Sie steckt sich kleine Vögel in den Mund, zerquetscht sie mit den Zähnen. Genau das. Ansonsten ist sie scheinbar auch nur ein Kind. Was passiert? Die Eltern lassen sie gewähren. Weder Vater noch Mutter haben ihrem Verhalten etwas entgegenzusetzen, sie werden stumme Komplizinnen ihres Tuns. Und ich glaube, genau das ist für mich ein elementarer Reiz von „seltsamer“ Fiktion: Nicht die Irritation die sich durch ein absonderliches Novum einstellt, wie es in der SF-Theorie heißt, sondern der Umgang der Figuren mit dem Seltsamen, die Reaktionen darauf, die Folgen einer Veränderung der Wirklichkeit.

Republica Luminosa

/ 2018

Der mittlerweile auch auf Deutsch übersetzte Roman spielt in einer subtropischen Kleinstadt, gelegen in Mitten eines fast undurchdringbaren Dschungels, in der über Nacht 32 bettelende und gewalttätige Kinder auftauchen. Niemand weiß, woher sie kommen, warum sie da sind und wie man mit ihnen umgehen soll. Erzählt wird ihr geisterhaftes und zugleich sehr reales Erscheinen von einem Ich-Erzählers, der 25 Jahre nach jenen seltsamen Ereignissen im Ort auf diese zurückblickt. Was dieses Buch so toll macht ist, dass Barba magisch-fantastisches Logiken mit materialistischen Tatsachbericht vermischt. Auf diese Weise überschreibt Barba all jene ermüdende Grenzziehung wie „Realismo mitopoético“, „Realismo metafísico“ und so weiter, indem er auf jenem schmalen Grat zwischen verseltsamter Wirklichkeit und gesellschaftlichen Kontext des Geschehens wandelt.

Empire of the Senseless

/ 1988

Von Kathy Acker erfuhr ich erstmals über Natalie Häusler. Wir waren 2018 zusammen in der Villa Aurora untergebracht und Natalie arbeitete dort u.a., wenn ich mich recht erinnere, an einem Projekt, bei dem auch Ackers Gedichte eine Rolle spielten. Natalie empfahl mir mit dem Roman „Empire of the Senseless“ anzufangen, den ich später in einer Buchhandlung in Santa Monica fand. Der Text spielt mutmaßlich in der Zukunft, in einem von Revolution und Krankheit verwüsteten Paris. Im Zentrum stehen Thivai, eine Art Pirat, und Abhor, ein Cyborg – die zugleich Terroristen wie Lieberhaberinnen sind. Über ihre Schultern blickend folgen wir einer alptraumhaften Reise durch die Stadt. Es ist ein Buch der Schrecklichkeiten, voller so seltsamer wie vertrauter Gestalten an Personen. Der Roman sei „eine Elegie auf die Welt unserer Väter", so Acker, ein Text über den tieferliegenden Horror einer radikal-patriarchalen Welt. Wer Genet mag, Bataille oder Gibson, wird sich vermutlich auch an Acker nicht satt lesen können.

 

 

Alff

/ 2015

Bevor ich Jakob persönlich kannte und liebte, landete ein Auszug aus seinem damals noch unveröffentlichten, ersten Roman auf dem Redaktionstisch der BELLA Triste, die ich damals mitherausgab. Drei Stunden stritten wir uns nur über diesen einen zehnseitigen Text, den ich um jeden Preis abgedruckt haben wollte. Irgendwann waren die anderen ein bisschen überzeugter, vor allem aber müde, es war schon spät, und schließlich wir drucken „Alff“. Der Roman gibt sich in der Gestalt eines Highschool-Murder-Mystery-Buchs, wo ein Mörder das US-Städtchen Beetaville heimsucht, den die Bewohnerinnen den „Vollstricker“ nennen, weil er seine Opfer in Zäune näht. Es ist ein Buch ist voller Seltsamkeiten, dunkler Finten und irrer Gags. Es gibt eine Arena, in der Verurteilte mit Eimern zu Tode geprügelt werden. Unter der Kirche liegt der in Stein gemeißelte Darkmarkt, der einzige Supermarkt der Stadt. FBI-Agent Jones sucht Rat bei einem Dachs und über die fiktive Autorin Holly Cello heißt es an einer stelle: „Und da ist sie, die Lüge, der Nährboden ihres Schreibens und der Schrift an sich, der Ort, den die wunderliche Autorin tatsächlich ihre Heimat nennt. (…) Das Erfinden und Verfälschen. Das Unlesbarmachen der Wirklichkeit. Das klammheimliche Entfernen der Welt aus der Welt, bis da nur noch Umrisse sind.“

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Erstveröffentlicht: 24.10.2023
Zuletzt aktualisiert: 24.10.2023

Juan S. Guse, wurde 1989 in Seligenstadt geboren. Er studierte »Kreatives Schreiben« und anschließend »Neuere Deutsche Literatur«. Sein Debütroman »Lärm und Wälder« erschien 2015, gefolgt von seinem zweiten Roman »Miami Punk«, erschienen 2019. Er lebt aktuell in Hannover.