Queeres Begehren in der Literatur

Von Hengameh Yaghoobifarah

»Der Text, den Sie schreiben, muss mir den Beweis bringen, dass er mich begehrt«, schrieb Roland Barthes in »Die Lust am Text«. Doch wie drückt sich das aus? Begehren zeigen, das kann eine Überwindung von Scham bedeuten, ein Bruch mit einer erwarteten Zurückhaltung, das Durcheinanderbringen einer Ordnung. Diese Praxis ist eines der prägenden Elemente queerer Literatur, die sich nicht durch das bloße Vorkommen von LGBTIQ-Realitäten definiert, sondern insbesondere durch eine Form, die jegliche Starrheit verwehrt und immerzu shiftet. Queeres Begehren in der Literatur, darüber scheint es unmöglich, eine vollständige Liste zu führen. Deshalb kann diese hier nur ein kleiner Auszug sein, der zumindest einen Kern und eine Vielfalt an Formen erahnen lässt. Einige dieser Titel sind leider nicht auf Deutsch erhältlich, was angesichts ihrer Relevanz enttäuschend ist.

Rot. Zwei Romane in Versen

/ 2019
Autobiography of Red: A Novel in Verse

Der heranwachsende Geryon fühlt sich wie ein Freak, ein Monster, ganz in Rot, schreibt er in sein Notizbuch, das er mit dem Titel »Autobiography« versehen hat. Und dann verliebt er sich auch noch in den Fuckboy Herakles. Die kanadische Dichterin, Essayistin und Altphilologin Anne Carson schreibt die griechische Antike in zeitgenössische Verse – und macht den schwindelerregenden Zustand der Pubertät samt erster Liebe und Identitätskrise spürbar. In der deutschen Übersetzung werden zwei Romane zusammengeführt: The Autobiography of Red ist Geryons Coming-of-Age-Geschichte, in der sich der Outsider verknallt und ganz außer sich ist. Im zweiten Teil kommt Red Doc>, eine Fortsetzung, die 40 Jahre später spielt und in seiner Erzählform noch experimenteller wird. Carson schafft es immer wieder, das erotische Paradox, also das Zusammenspiel von Genuss und Schmerz, von Süße und Bitterkeit, von Liebe und Hass, auf neue Arten zu erzählen.

 

Warum lesen

Wenn ich über queere Literatur als Genre nachdenke, ist Anne Carson einer der ersten Namen, die mir durch den Kopf gehen. Es ist nicht nur ihr experimenteller Stil der lyrischen Prosa, sondern das Hijacken der griechischen Mythologie, die zwar viel Queerness in sich trägt, aber in Carsons Werk durch die zeitgenössische Sprache viel mehr Spaß macht.

A Restricted Country

/ 1988

In dieser Sammlung aus Essays und Kurzgeschichten widmet sich die US-amerikanische Autorin Themen wie der Solidarität zwischen Schwarzen und jüdischen Aktivist*innen in den USA, Butch-Femme-Dynamiken, den Feminist Sex Wars oder dem Verhältnis zwischen Lesben und Sexarbeiter*innen. Queeres Begehren als Drive für politische Kämpfe, aber auch die Macht der Erinnerung spielen eine zentrale Rolle. Wenn Joan Nestle als Mitbegründerin des Lesbian Herstory Archives NYC die Relevanz von Archiven in feministischen und queeren Aktivismen betont, weiß sie, wovon sie spricht. Besonders queere Geschichtsschreibung ist wichtig zu dokumentieren und zu erhalten, weil viel Wissen durch systematisches Auslöschen verloren geht. Ihre Texte sind nicht leicht zu beschaffen, aber umso wichtiger, besonders, wenn es um lesbisch-feministisches Leben in der McCarthy-Ära geht.

 

Warum lesen?

Joan Nestle ist eine der wichtigsten lesbischen Autor*innen und hat mich sehr stark beeinflusst. Leider sind ihre Texte nur in kleinen feministischen Verlagen erschienen, weswegen sie heute als gedrucktes Buch rare Ware sind. Während der Feminist Sex Wars versuchten Anti-Porno-Aktivistinnen, ihre Arbeit zu zensieren und sie beispielsweise von Publikationen oder Konferenzen auszuschließen – auch diese Konflikte lassen sich bei ihr nachlesen.

Nevada

/ 2013

Maria ist Ende 20, bloggt beliebte Analysen über trans Realitäten auf ihrem Live-Journal, arbeitet in einem New Yorker Buchladen und lebt mit ihrer Partnerin Steph und ihrer Katze zusammen in Brooklyn. Glücklich macht sie davon: Nichts. Zwischen ständiger Dissoziation, Gleichgültigkeit und Unentschlossenheit verliert sie erst ihre Beziehung, dann ihren Job und beschließt kurzerhand, sich mit Heroin im Wert von 400 Dollar im Handschuhfach das Auto ihrer Exfreundin zu schnappen und zu flüchten. Das Ziel ist ungewiss, vielleicht an die Westküste, Hauptsache weg und herausfinden, was sie eigentlich will. Auf ihrer Reise trifft sie in einem Wal-Mart in Nevada auf den Verkäufer James, ein zwanzigjähriger Kiffer, der ebenfalls die überwiegende Zeit in geistiger Abwesenheit verbringt. Maria erkennt in ihm etwas – und macht es zu ihrem Projekt, James zur Selbsterkenntnis zu helfen.

 

Warum lesen?

Imogen Binnies Roman gilt als eine der ersten zeitgenössischen trans Romane, die ein ganzes Genre geprägt haben. Witzig, ehrlich und ohne aufgesetzten Bildungsauftrag beschreibt sie die Beziehung zwischen Begehren und Dissoziation. Wer Torey Peter mag, wird Imogen Binnie lieben.

The Freezer Door

/ 2020

Ohne sie zu beschönigen, erkundet Mattilda Bernstein Sycamore in ihrem essayistischen Memoir die Gegenwart queerer Urbanität mit all ihren Ambivalenzen. Im Zentrum steht ihr Begehren nach queerer Verbundenheit und die Einsamkeit auf dieser Suche. Sie schreibt über Gentrifizierung, Cruising, Zugehörigkeit und Begehren, mal in kurzen Anekdoten und Gedankenfragmenten, mal weiter ausgeholt. Das Ergebnis ist eine komplexe Auseinandersetzung mit queerem Leben in der Stadt, die gleichermaßen schön und traurig ist.

 

Warum lesen?

Ihre Beobachtungen, durchzogen von Euphorie, Neugierde und Melancholie, sind absolut relatable und werfen die Frage auf, was die Kommodifizierung von Widerständigkeit mit unserem Sehnsüchten macht. Das Buch ist in seiner Form queer und widmet sich gleichzeitig dringlichen Fragen queerer Radikalität – dafür sind auch ihre anderen Werke bekannt.

Gedichte einer schönen Frau

/ 1983

Auf 128 Seiten zeigen die Gedichte der Performance-Künstlerin, Aktivistin und Autorin Guy St. Louis einen Einblick in West-Berlins lesbisches Leben der frühen 1980er. Kämpferisch, ungefiltert und kraftvoll schreibt sie über ihr Lesbischsein, ihr Schwarzsein und ihr Begehren aus dieser Position heraus. Selbstbewusst, kinky und taff.

 

Warum lesen?

Ohne den Rassismus und die Homofeindlichkeit der BRD kleinreden zu wollen, finde ich es wichtig zu betonen, dass rassifizierte Queers nicht nur existiert haben, sondern handlungsfähig waren und eine Legacy hinterlassen haben, aus der wir heute sehr viel Kraft und Inspiration schöpfen können – insbesondere, wenn es darum geht, mit einer Selbstverständlichkeit zu einem Begehren zu stehen, welches nicht allen schmeckt.

Muttermilch

/ 2021
Milk Fed

In Melissa Broders zweitem Roman »Muttermilch« sucht die Protagonistin Rachel entgegen der von ihrer narzisstischen Mutter eingetrichterten Disziplin nach lustvollem Vergnügen unterschiedlicher Form. Eigentlich hat sie eine Essstörung und zählt pedantisch Kalorien, wobei ihre Mahlzeiten zu den Highlights ihres Alltags gehören. Nachdem ihre Therapeutin ihr rät, den Kontakt zu ihrer Mutter temporär abzubrechen und sie dem Ganzen eine Chance gibt, verliebt sie sich in die Frozen-Yoghurt-Verkäuferin Miriam. Diese bringt ihr nicht nur den Genuss opulenter Speisen näher, sondern letztlich auch Rachels Begehren, das sie so lange unterdrückt hat. Es geht dabei über Sexualität hinaus: Rachel begibt sich leidenschaftlich in sinnliche Genüsse unterschiedlicher Art – Sex, Essen, Spiritualität – und lernt dabei, wie ein autonomes Leben ohne die Regeln ihrer Mutter für sie aussieht.

 

Warum lesen?

Es geht nicht anders, man verschlingt den Roman. Er ist so lustig und lustvoll, dass es schwer ist, seinem Sog zu entkommen. Durch die Mehrdimensionalität steht vor allem die Sinnlichkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen im Zentrum.

Stone Butch Blues

/ 1993

Stone Butch Blues erzählt die Geschichte von Jess, einer jüdischen Butch, die in den USA der 50er aufwächst. Es geht um Polizeigewalt, Gewerkschaftsarbeit, institutionalisierte Homofeindlichkeit und Zuwendungen unter Queers. In einer Zeit, in der das Leben jenseits cis- und heteronormativer Vorstellungen gefahndet und gewaltvoll bekämpft wird, fungiertJess‘ Begehren als Licht, das durch die Dunkelheit führt.

 

Warum lesen?

Ein Klassiker. Das Vermächtnis von Leslie Feinberg ist für Lesben und trans Personen weltweit von großer Bedeutung, weil es so viele verschiedene Kämpfe miteinanderverbindet. Als Kommunist*in war es Feinberg wichtig, dieses Buch so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen, weswegen dey1 kurz vor deren Tod die englische Version als kostenloses PDF auf deren Website zugänglich gemacht hat.

1Leslie Feinberg benutzt im Englischen ze/hir, die ich mit dem Deutschen Pronomen dey/deren/demm übersetzt habe.

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 19.12.2022
Zuletzt aktualisiert: 19.12.2022
Diese Liste wurde gefördert durch

Hengameh Yaghoobifarah *1991 in Kiel, arbeitet als Redakteur*in beim Missy Magazine und schrieb von 2016 bis 2022 die taz-Kolumne »Habibitus«. 2019 gab Yaghoobifarah gemeinsam mit Fatma Aydemir die Essaysammlung »Eure Heimat ist unser Albtraum« heraus. Der Debütroman »Ministerium der Träume« wurde 2021 veröffentlicht und erhielt den Publikumspreis des Franz Tumler Literaturpreises sowie den Salon 5 Jugendbuchpreis in der Kategorie »Gerechtigkeit«.