plus 2 Klassiker-Empfehlungen

Von Daniela Danz

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz

/ 2022

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Eine Strafe kann einen armen Menschen die Existenz kosten, während ein Reicher die Strafe kaum spürt oder sie sogar von der Steuer absetzen kann. Der Rechtsstaat hat sein Versprechen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wie es im Grundgesetz steht, gebrochen. Ronen Steinke spricht in seinem Buch von einer neuen Klassenjustiz und trifft damit den Kern der sozialen Ungleichheit und Ungleichbehandlung im deutschen Strafsystem: Die blinde Justitia, die nicht auf Herkunft, Kontostand oder Abschluss schaut, gibt es nicht. Es spielt für die Entscheidung der Richter:innen oder der Staatsanwaltschaft eine Rolle, ob ein wohnungsloser Mensch mehrmals schwarzgefahren ist oder ob ein Top-Manager einer Fußballmannschaft Steuern hinterzogen hat – Vergehen, die den Staat Geld kosten. In den letzten Jahrzehnten ist die Ersatzfreiheitsstrafe für nicht bezahlte Geldstrafen zur häufigsten Form der Gefängnisstrafe geworden, während für den Staat schmerzhaftere Summen in Millionenhöhe mit verhältnismäßig kleineren Strafen abgetan werden. mehr

Dem Buch liegt eine umfangreiche Recherche zugrunde: Gespräche u. a. mit Rechtskanzleien, Staatsanwält*innen und Richter*innen, mit Gefängnismitarbeiter*innen, ausgewertete Statistiken und Erfahrungen aus Gerichtssälen – der Vorwurf einer Klassenjustiz ist fundiert.

Warum lesen

Weil man Probleme nicht lösen kann, wenn man sie nicht kennt. Weil wir in einer Demokratie leben, die es uns ermöglicht und es wünscht, dass wir alle sie gemeinsam weiterentwickeln. Muss unsere Strafjustiz so funktionieren? Ronen Steinke macht Vorschläge, wie es besser laufen könnte und wie es mehr Gerechtigkeit im Recht geben kann.

Nichts: was im Leben wichtig ist

/ 2010

In Tæring, einer Kleinstadt in Dänemark, gelangt der Schüler Pierre Anthon während einer Unterrichtsstunde zu der Erkenntnis: »Nichts bedeutet etwas. Deshalb lohnt es sich nicht irgendetwas zu tun«, worauf er die Schule verlässt und sich auf einen Pflaumenbaum setzt. Von dort aus versucht er, seine Mitschüler von seinen nihilistischen Ansichten zu überzeugen. Diese ärgert das so sehr, dass sie ihm einen Gegenbeweis liefern wollen und beginnen, Dinge zu sammeln, die etwas bedeuten. Zunächst handelt es sich um Sachen, die sie von Bürgern aus der Stadt erbitten, bis sie merken, dass diese von keiner Bedeutung für sie selbst sind und damit keine Beweise darstellen. Sie beginnen, Gegenstände, die für sie eine persönliche Bedeutung haben, zu opfern. Dabei legt derjenige, der das letzte Opfer gebracht hat, fest, wer der Nächste ist und was dieser für den sogenannten »Berg aus Bedeutung« opfern muss. Die Größe der Opfer spitzt sich im Laufe des Buches zu: Während es sich anfangs nur um Ersetzbares wie beispielsweise eine Angelrute handelt, liegen am Ende ein exhumierter kleiner Bruder und ein abgeschnittener Finger auf dem Berg. Je schmerzvoller das eigene Opfer empfunden wird, umso bedeutender muss das Opfer sein, dass vom Nächsten verlangt wird. Nachdem die Öffentlichkeit auf den Berg aufmerksam geworden ist, bietet ein amerikanisches Museum den Schülern mehrere Millionen Dollar für dieses »Kunstwerk«. Die Diskrepanz zwischen dem Verkauf des Bergs und ihrer bisherigen festen Überzeugung der Existenz des Bedeutsamen, lässt die Jugendlichen zweifeln. Die Sache eskaliert, als Pierre Anthon diesen Zweifel ausspricht: Warum habt ihr den Berg verkauft, wenn er so viel bedeutet? Die Wut, die er mit dieser Frage hervorruft führt zu einer Schlägerei, bei der Pierre Anthon am Ende regungslos und grausam zugerichtet auf dem Boden liegen bleibt. In derselben Nacht brennt das ehemalige Sägewerk, in dem sich der »Berg aus Bedeutung« und der tote Pierre Anthon befinden, ab. Übrig bleibt nichts.

 

Warum lesen

Janne Tellers Roman setzt sich radikal mit einer der existentiellsten und zentralsten Fragen auseinander: der Sinnfrage, die Menschen vor allem im Jugendalter beschäftigt. Es entsteht ein Kontrast zwischen den noch kindlichen Gedanken und Gefühlen der Schüler*innen und deren absurdem Versuch, diese Frage zu beantworten. Die Geschichte provoziert eine eigene Haltung zu dieser Frage und öffnet dem Lesenden eine Tür zu vielen möglichen Perspektiven auf sie.

Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose missachtet und sie dennoch braucht

/ 2020

Kann ich als Autorin nur über etwas schreiben, das ich kenne? Oder noch mehr: das ich bin, oder wenigstens war? Alle paar Jahre beschäftigt diese Frage die Feuilletons in unterschiedlichen Konstellationen, und ich möchte mir nicht anmaßen, sie zu entscheiden. Stattdessen stelle ich ihr eine Frage zur Seite, die, soweit ich sehe, eher selten vorkommt: Kann ich ein Buch, für dessen Inhalt die Biographie der Autorin maximal einsteht, rezensieren, wenn mir die Lebensumstände, um die es geht, maximal fremd sind? Ich meine damit Kritiker, die Anna Mayr für ihr Buch »Die Elenden« Selbstbezogenheit und akademische Versäumnisse in Sachen Armutsanalytik vorhalten. Wie viel Klassismus steckt in solchen Vorwürfen, zumal wenn sie den politischen Punkt übersehen, der unlängst, zwei Jahre nach Erscheinen, Bestätigung auf großer Bühne erfahren hat? Oder wie ist sonst zu verstehen, dass an ein paar zarten Monaten Vertrauensvorschuss, die man mit dem Bürgergeld gewähren wollte, die arbeitsmarktpolitische Seligkeit hängen soll? Natürlich darf man über so ein Buch streiten, man muss das sogar. Dazu gehört auch und zuerst, über eigene Privilegierungen nachzudenken – was sogar für jene gilt, die diese authentischen Nachrichten von Harz-IV andernorts mit einem wohlmeinenden Gestus würdigen, der nicht immer von eigenen Ausflügen in das unbekannte Land der Armen zeugt.

Warum lesen

Getroffene Hunde bellen, aber, und das gibt es aus der Debatte über dieses lesenswerte Buch zu lernen: getroffene Katzen schnurren.

Demokratie unter Schock: Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte

/ 2021

Dass die Menschen in Thüringen ihr Land nicht nur für das schönste der Welt, sondern auch für die Welt überhaupt halten, ist bekannt – dass außerhalb seiner Grenzen nur wenige Politik-Nerds die Reihe seiner Ministerpräsidenten zusammenbekommen würden, eine bittere Wahrheit. Bis auf einen; von dem haben alle schon gehört, selbst wenn ihnen der Name nicht gleich einfallen sollte. Die Geschichte um Thomas Kemmerich und seine rekordhaft kurze Amtszeit im Frühjahr 2020 hat der Journalist Martin Debes so live verfolgt, wie es journalistisch möglich ist, schreibend begleitet und anschließend in diesem lesenswerten Band niedergelegt. Der Weg, den die Akteurinnen und Akteure auf der politischen Bühne Thüringens gegangen, gesprungen und schlafgewandelt sind, bis die AfD einen FDP-Politiker zum Ministerpräsidenten küren konnte, erinnert nicht zufällig an die Analysen, die Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in »How Democracies die« für die USA vornahmen.

Warum lesen

Weil man selten eine so minutiöse und spannende Darstellung der Mechanismen unseres parlamentarischen Systems serviert bekommt – auch und gerade als Momentaufnahme ihres Versagens.

Der gelbe Vogel

/ 2019

Im Jahr 1977 erschien Myron Levoys Jugendroman »Der gelbe Vogel«. Es erzählt die Geschichte von Alan, einem zwölfjährigen jüdischen Jungen im New York der 1940er Jahre, der von hilflosen Erwachsenen den Auftrag bekommt, sich um Naomi zu kümmern: ein gleichaltriges, schwer traumatisiertes, ebenfalls jüdisches Mädchen, das in Frankreich die Ermordung ihres Vaters miterleben musste. Alan wächst an der Zumutung dieser Aufgabe und riskiert für sie nach und nach alles, was ihm wichtig ist. »Der gelbe Vogel« ist ein großartig geschriebenes Buch über die Freundschaft, die ganz normalen und keineswegs geringen Probleme der Jugend, über den Krieg und über die Vernichtung des europäischen Judentums. Warum lesen? Levoy schrieb in der Perspektive eines selbst nicht betroffenen Beobachters, und noch mehr: des helfenden, sich um die Opfer sorgenden und für sie kämpfenden Mitmenschen. Er schrieb für ein Publikum, das in einer räumlichen Distanz lebte, baute ihm eine Brücke und gab ihm ein Vorbild für die richtige, menschliche Antwort auf Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung. Heute haben wir es mit einer zeitlichen Distanz zu tun: Es gibt kaum noch Überlebende der Shoah, die jungen Menschen authentisch erzählen können, was ihnen angetan wurde.

Warum lesen

Die Geschichte von Naomi und Alan hilft, eine Vorstellung davon zu entwickeln, indem sie – ohne in falsche Identifikationen abzugleiten – an Fragen anknüpft, die Kinder und Jugendliche zu allen Zeiten beschäftigen.

Die Reise nach Armenien

/ 1983

Bei manchen Büchern bin ich unsicher, ob ich sie wirklich empfehlen soll – nicht, weil es irgendeinen Zweifel daran gäbe, dass sie gelesen und wieder gelesen werden müssen, sondern weil ich dem naiven Glauben anhänge, dass ohnehin jeder Mensch ein Buch wie Ossip Mandelstams »Die Reise nach Armenien« irgendwann schon einmal gelesen haben muss. Denn es steht ja völlig außer Frage, dass ein solches Buch verdient, immer wieder gelesen zu werden: für die Poetologie des Reisens, die in ihm liegt, für die großartige Übersetzung, die Ralph Dutli der deutschen Sprache geschenkt hat, und für so viel mehr. Wenn ich es aber hier empfehle, dann als ein politisches Buch, das mich in den Monaten seit dem 24. Februar 2022 immer wieder und mehr als ohnehin beschäftigt hat. Politisch, weil es ein Denkmal für die bedrohte Sprache ist, die Selbstbehauptung einer dichterischen Sprache und Weltsicht, bevor sie zum Verstummen gebracht wurde. Tanja Maljartschuk schrieb im März, sie sei keine Schriftstellerin mehr, werde es vielleicht nie mehr sein können. Nein, ich vergleiche nicht Mandelstam mit Maljartschuk und nicht Stalin mit Putin – schon allein, weil es letzterem wohl gefallen würde.

Warum lesen

Aus demselben Grund, aus dem wir die Klage von Tanja Maljartschuk hören sollen. Beide erinnern an etwas, das in Deutschland – in Deutschland! – in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten ist: die Frage nach dem poetischen Wort angesichts des politischen, des staatlichen Verbrechens.

Lustgarten Preußen

/ 2017

Das Buch ist nicht neu und die Zeit, aus der es kommt, ist es noch weniger: »Lustgarten Preußen«, die 1996 erschienene Auswahl von Gedichten Volker Brauns, darin auch eines seiner bekanntesten, »Das Eigentum« aus dem Jahr 1990. Die 4 Kapitel des Bandes heißen »1959–1974«, »1975–1980«, »1981–1987« und »1998–1995« – Chiffren der Werkbiographie, die über die Daten der Geschichte hinweggehen und damit gerade jene Schwellen betonen, über die heute wahrscheinlich nur noch ein besonders gut informiertes Publikum stolpert. Dass gerade Volker Braun hervorragend verstand, seine Kritik an den Verhältnissen in der DDR in subtilen Stolperfallen unterzubringen, widerspricht dieser Feststellung nicht. Es geht um die Kunst, mit nicht viel mehr in der Hand als genauer Beobachtung und dem präzise gesetzten Wort den Leitmythen der Herrschaft die Luft abzulassen. Jene Kunst also, auf die sich viele andere Autorinnen und Autoren in der DDR, nicht zuletzt die der »Sächsischen Dichterschule«, verstanden. Und obwohl ich mit diesem Staat persönlich vor allem Kindheitserinnerungen verbinde, gehört diese Genauigkeit für mich zu den wichtigsten Kriterien für Literatur, insbesondere für Lyrik.

Warum lesen

Wenn es denn stimmt, dass wir mit unserer Gegenwart die Zukunft in Gefahr bringen, und wenn das nicht zuletzt bedeutet, dass unter den Bedingungen eines überhitzten Klimas auch das Recht und auch die Demokratie Schaden nehmen werden – dann brauchen wir Lehrbücher wie dieses.

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 06.01.2023
Zuletzt aktualisiert: 06.01.2023
Diese Liste wurde gefördert durch

Daniela Danz ist Autorin und schreibt Lyrik, Romane und Essays. Außerdem arbeitet sie mit Komponisten und Filmemachern zusammen. 2022 wurde die Oper »Der Mordfall Halit Yozgat«, für die sie das Libretto schrieb, an der Staatsoper Hannover uraufgeführt und als Opernfilm auf Festivals in New York und Amsterdam gezeigt. Sie unterrichtet an der Universität Hildesheim und ist seit 2021 Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaft und der Literatur Mainz. Ihre jüngsten Veröffentlichungen sind: Wildniß, Gedichte, Wallstein Verlag, Göttingen 2020; Lange Fluchten, Roman, Wallstein Verlag, Göttingen 2016. Im Frühjahr 2023 erscheint ihr Essayband »Nichts ersetzt den Blick ins Gelände«.