Horror
Horrorliteratur jenseits von Poe, Lovecraft und King
Jeden Tag werden wir überflutet von schrecklichen Nachrichten. Mord, Todschlag, Genozid, Klimawandel. Geister vom Faschismus kehren zurück und spuken im Parlament. Unsere Welt brennt, an allen Ecken und Enden. Warum sollte man dann abends in seinem kuscheligen Bett etwas zur Hand nehmen, was noch viel schrecklicher ist? Warum sich Monster und Schreckgespenster in das sichere Zuhause holen? Warum über zerfließende Körper, Tränen und Verwandlungen lesen oder gar kosmischen Horror aus den Tiefen des Universums heraufbeschwören?
Die amerikanische Schriftstellerin Joanna Russ lieferte 1980 in dem Essay »On the Fascination of Horror Stories, Including Lovecraft’s« eine Antwort, die durch die Hallen meiner inneren Architektur geistert: Horror lässt uns weniger einsam fühlen. Die grotesken Bilder, die in Horrorliteratur auf die Spitze getrieben werden, sind menschliche Belange, die uns alle belasten. Dinge in unserer Welt sind oft nicht so, wie sie erscheinen. Wenn man sich alleine oder unzugehörig fühlt, ist es manchmal schwierig, dafür Validierung zu finden – vor allem, wenn man ständig vom bizarren Perfektionszwang von Social Media umgeben ist. Horror zeigt uns: Jemand war vorher schon einmal hier, du bist nicht allein. Bemerkenswert dabei ist, dass sich in den letzten Jahren das Genre, das lange unter der Vorherrschaft alter, weißer Männer (nichts für ungut!) stand, zum Sprachrohr von FLINTA* Personen, Queeren Menschen, Minderheiten und People of Color wurde. In diesem grenzenlosen Raum, der zwischen den Genres schwebt und nirgends genau zu verorten ist, werden Bilder heraufbeschworen, die uns unheimlich fühlen lassen. Dieses Gefühl der Unheimlichkeit war vorher schon da, aber erst das Horrorgenre verbildlicht es und so fühlen wir uns auf seltsame Weise verstanden.
Hier eine Liste fernab von Edgar Allen Poe, H.P. Lovecraft, Stephen King und Co. und wer weiß, vielleicht steigst du ja auch in die schaurig schöne Community der Horror-Fans mit ein, ich verspreche: Nach diesen Büchern wirst du dich nicht mehr alleine fühlen – auch wenn du das Licht ausmachst. Denn wie heißt es doch so schön? Wir fürchten uns nicht davor, nachts alleine im Wald zu sein, sondern davor, nicht alleine zu sein.
Das Haus – House of Leaves
/ 2007Ganze Abhandlungen sind über den Begriff des »Unheimlichen« geschrieben worden. Die erste genaue Untersuchung unternahm Sigmund Freud 1919 in seinem Essay »Das Unheimliche«. Martin Heidegger, Jacques Derrida und Mark Fisher nahmen den Begriff auf alle möglichen Bedeutungen hin auseinander und selbst Bertolt Brecht bezieht sich darauf in seinen Überlegungen zum »Verfremdungseffekt«. Einer der wichtigsten Faktoren des Unheimlichen ist, dass sich das Individuum wie ein Fremder im eigenen Körper fühlt und buchstäblich nicht mehr zuhause ist. Danielewski übernimmt das Konzept und setzt dort an, wo man sich eigentlich am wohlsten fühlen sollte: in den eigenen vier Wänden. Die Grenzen von Literatur werden in diesem bombastischen Werk aufgelöst, beinhaltet es doch drei miteinander verwobene Geschichten in einer labyrinthischen Form, die seit seinem Erscheinen eine kleine, aber feine Anhängerschaft gefunden hat. mehr
Die Figur Johnny Truant findet in dem chaotischen Zimmer seines kürzlich verstorbenen Nachbarn, Zampano, Aufzeichnungen über Filmaufnahmen, in denen ein Regisseur plötzlich einen Gang in seinem Haus findet, der dort nicht sein sollte. Ihr seht schon, die Wendeltreppe nach unten dreht sich bereits und das Labyrinth, das den Leser erwartet, ist so bisher unerreicht in der Literaturlandschaft. Unzählige Fußnoten führen ins Nirgendwo und das Buch steckt voller Rätsel, die in unheimlich vielen Foren hitzig diskutiert werden. Und was Danielewski mit dem Layout alles so anstellt, passt fast gar nicht zwischen zwei Buchdeckel. Wer nicht vor einer Herausforderung zurückschreckt und gerne seinen Horizont erweitert, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Ich bin mir sicher, Brecht wäre stolz auf jeden, der sich hiermit verfremdet.
Spuk in Hill House
/ 1993»Kein lebender Organismus kann unter den Bedingungen der absoluten Realität lange bei klarem Verstand weiterleben; selbst Lerchen und Laubheuschrecken werden von manchen als Träumer angesehen.«
Seit einigen Jahren beobachte ich, wie öffentliche Orte dezimiert werden und sich Menschen in ihren privaten Häusern verstecken. An einem besonders ungemütlichen Freitag im Oktober versuchte ich vorsichtig, eine kleine spontane Party zu veranstalten ... aber meine Welle der Motivation wurde durch den Unwillen meiner Freunde und Bekannten, sich von der Couch zu erheben, gebremst. Wütend versuchte ich, Geister zu beschwören – nur um mir die Zeit zu vertreiben – und wünschte mir nichts sehnlicher als klirrende Ketten und diffuse Lichtgestalten, die mein Besteckfach durcheinanderbringen, nur um eine Störung in meinem gemütlichen kleinen Schlafzimmer zu erleben. In diesem Zusammenhang: Wäre es möglich, eine Mietminderung zu beantragen, wenn es spukt? mehr
Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich zum ersten Mal das Meisterwerk »The Haunting of Hill House« von Shirley Jackson nachts in meinem Bett gelesen habe. Ich kuschelte mich zufrieden in meine Froschdecke, bis ich das Licht ausschaltete. Aber der Schlaf wollte sich meiner nicht erbarmen, denn ich war verängstigt und musste vor lauter Unbehagen das Licht anlassen. Das waren noch Zeiten. Nichts ist vergleichbar mit der unglaublichen Panik, die einen überkommt, wenn man plötzlich das Gefühl hat, in seinem eigenen Zuhause nicht mehr sicher zu sein. Vor allem wusste ich nicht mehr, ob ich es lieber hätte, wenn jemand meine Hand hält – oder nicht.
Hiobs Spiel
/ ab 2002Ein Projekt epischen Ausmaßes des Berliner Autors Tobias O. Meißner: Angelegt auf 50 Jahre und mehrere Bände stellt sich der Autor sprachgewaltig dem Kampf von Gut gegen Böse und wirft den Antihelden Hiob in den Ring. Der geht nämlich einen Pakt mit dem Teufel ein, es geht um das buchstäbliche Schicksal der Welt. Achtung: nichts für Zartbesaitete! Werden hier doch allerlei Gräuel der menschlichen Existenz und deren Abgründe gezeigt und mitunter ins Groteske gesteigert. Aber Horror kann und soll sich ja mit schrecklichen Dingen auseinandersetzen. Da es bisher leider nur sehr wenige veröffentlichte deutschsprachige Horror Autor*innen gibt, war es erfrischend, mal einer Geschichte ausgesetzt zu sein, die vor der eigenen Haustür spielt. Nämlich in Berlin. Das macht das ganze unmittelbar betreffender und eröffnet eine ganz neue Ebene von Horror-Erleben.
Wie die Schweine
/ 2020Horror testet gerne Grenzen aus. Ob das die Grenzen des guten Geschmacks, des bis dato Möglichen oder des Aushaltbaren sind, bleibt den Autor*innen überlassen. Agustina Bazterrica aus Buenos Aires sprengte sie alle – und platzierte sich damit wochenlang auf den Bestsellerlisten Argentiniens. Eigentlich eine simple Idee: Marcos arbeitet in einer Schlachterei, jeder Arbeitsschritt wird minutiös in knappen, einfachen Sätzen ausformuliert. Die Bilder kennt man aus PETA Demonstrationen (einer der Gründe, warum ich persönlich auf Fleisch verzichte). Würde ich allerdings in dieser schrecklichen Parallelwelt des Romans leben, würde mir der Staat einreden, dass tierisches Protein unverzichtbar ist. Allerdings sind Tiere Überträger einer schrecklichen Seuche und wurden bis zum letzten Spatz ausgerottet. Also schlachtet Marcos Menschen, die extra zum Verzehr gezüchtet werden ... mehr
Eigentlich reicht das schon zum Haaresträuben, aber Bazterrica webt zusätzlich noch eine klinisch präzise Charakterstudie mit ein und hinterlässt uns mit einem Ende, dass einen schwer wieder loslässt.
Ihr Körper und andere Teilhaber
/ 2019Horror kommt in Wellen. Man erinnere sich an die ganzen Gothic Romane um die
Jahrhundertwende, Expressionistischen Horror der 1920er und das Folk Horror Revival in den 70ern. Dann badete der (hauptsächlich englischsprachige) Markt in den 80ern unter dem Licht des Pulp-Sonnenuntergangs, bis sich die Welle in den 90ern brach – und nur Stephen King an der Oberfläche schwamm. mehr
Als ich mich mit 15 gruseln wollte, gab es in der örtlichen Bibliothek leider nur Lovecraft, Poe und King, allerdings gestaltet es sich für mich persönlich schwer sich mit männlichen, weißen Charakteren mitte 40 zu identifizieren. Allerdings ist unsere Kulturlandschaft gebeutelt von ständigen Wiederholungen und somit rollte 2017 eine neue Welle im Horror heran, dieses mal aber als Sprachrohr für Minderheiten, Bipoc Personen und FLINTA* Menschen. Carmen Maria Machado lieferte mir endlich Kurzgeschichten, die ich mir so sehnlichst gewünscht hatte. Machado ist queer, schreibt fantastische Essays auf ihrem Blog, veröffentlichte einen Roman/Memoir über eine queere Missbrauchsbeziehung und eben den Erzählband »Ihr Körper und andere Teilhaber«. Diese Kurzgeschichtensammlung brummt nur so vor Originalität, wundersamen Ideen und Empathie für ihre Charaktere. Auch wenn es Horror ist, fühlen sich manche Geschichten wie eine Umarmung an, nach deren Lektüre es einfacher wird, sich dem wogenden Ozean des Alltags zu stellen.
Der Heilige mit der roten Schnur
/ 2020Was empfinden Menschen eigentlich als gruselig? Die bulgarisch-französische Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva prägte 1980 in ihrem Essay »Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection« den Begriff des »Abjekts«. Darunter versteht sich alles, was in einem Menschen Ekel und Aversion hervorruft und sein Ich Bewusstsein mit dessen Grenzen und Ängsten konfrontiert, indem es eine »körperliche Realität« hervorruft. Beispiele für Abjekte sind unter anderem: Aas, Leichen, Darstellung von Gewalt, Folter, etc.
Klingelt da etwas? mehr
Wo werden Kinder eingesperrt, um gebraten und anschließend gegessen zu werden? Wo liegen neun Leichen von Ex-Ehefrauen in einem abgesperrten Raum? Wo wird ein sprechender Pferdekopf an den Stadteingang gehängt? Unter der Kristeva-Lupe werden Märchen ganz schnell zu Horror, ergo die Leser*innen, die es »sonst nicht so mit Grusel haben« wurden bereits in der Wiege damit beglückt. Der rumänische Author Flavius Ardelan hat ein fantastisches Märchen erschaffen, dass sowohl düster als auch tiefsinnig ist und nicht von den Gebrüder Grimm, sondern von Bartholomäus Knochenfaust erzählt wird. Und Garn spinnen kann dieses sprechende Skelett sondergleichen, erzählt es denn das Märchen des heiligen Tesh, der eine ganz besondere, rote Schnur aus seinem Bauchnabel ziehen kann …
Das Seltsame und das Gespenstische
/ 2017Fisher untersucht die beiden Begriffe »das Seltsame« (the Weird) und »das Gespenstische« (the Eerie) und erweitert sie mit neuen Bedeutungen. »Das Seltsame« tritt ein, wenn etwas plötzlich dort ist, wo nichts sein sollte und »das Gespenstische« beschreibt eine Abwesenheit von etwas, wo eigentlich etwas sein sollte. Diese Sachverhalte wendet er an zahlreichen Beispielen aus der Kulturindustrie an: von Lovecraft über David Lynch bis zu Daphne du Maurier. Basierend auf seinen Empfehlungen und tiefsinnigen Überlegungen arbeitete ich mich durch alle genannten Werke und erweiterte so maßgeblich meinen Horizont. Leider begang Fisher vor Erscheinen dieses Buches Suizid und hinterlässt seitdem ein Loch im Bereich der zeitgenössischen Kulturkritik. Ich bin mir sicher, dass er die Entwicklung der letzten Jahre mit einigen Kommentaren bereichert hätte. mehr
Alle paar Jahre fällt einem ein Buch in die Hand, das alles verändert. Bei mir war es dieses kleine Sachbuch. Mark Fisher öffnete mir eine Tür zum dunklen Unterbauch der Kulturforschung und meine Interessensverlagerung färbte ab auf Literatur, Musik, visuelle Kunst und bereichert seitdem mein eigenes Kunstschaffen maßgeblich. Es eröffnete mir eine neue Welt der Recherche, von Begriffen über l’Hauntologie, das Unheimliche, Brechts V-Effekt, Psychogeographie und ein ganz neues Verständnis von Nostalgie. Und ganz ehrlich, bei den ganzen Spukhäusern in dieser Liste fühle ich mich im Keller eigentlich ganz wohl.
Wandler Weird Anthalogie
/ 2023Erstmal vorweg ein ganz großes Lob für den kleinen, aber feinen Wandler Verlag, der in einer Zeit von Verlagsgiganten abseits des Mainstreams kleine Horrorperlen findet und diese veröffentlicht. Ich bin mir sicher, dass das Risiko, Jeff Vandermeers »Veniss underground« zu übersetzen und zu veröffentlichen, nicht gering ist. Vandermeer prägte unter anderem den neuen Genrebegriff »Weird Fiction«, dessen andersartige Welle endlich auch nach Deutschland schwappt, was wiederum (unter anderem) dem Wandler Verlag zu verdanken ist! Leser*innen, die Lust auf etwas Neues haben, lege ich diese Sammlung an seltsamen (oh, hi Mark!) Geschichten sehr ans Herz. Michael Schmitt hat eine tolle Schatzkiste mit zeitgenössischen Seltsamkeiten zusammengetragen. Viele von ihnen verweisen auf H.P Lovecraft, manche sind ein bisschen blutig, andere ganz schön schaurig. Aber was alle Autor*innen in diesem Band ausmacht, ist ihr Mut sich in literarische Grenzgebiete vorzuwagen. mehr
Besonders herausstechend fand ich persönlich »Von Menschen und Wölfen« von Stephen Graham Jones: eine hochkomplexe Geschichte, die es schafft, nach wenigen Seiten einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Man merkt, wie viel Liebe der Herausgeber in diese Anthologie gesteckt hat und das erfüllt mich mit wahnsinnig viel Freude und Hoffnung für die deutsche (Horror-)Literaturlandschaft!
Die blutige Kammer
/ 2025Angela Carter, bisher wenig in Deutschland bekannt, wurde endlich (wieder-) entdeckt und eines ihrer glorreichsten Werke – Die blutige Kammer – neu übersetzt. Ursprünglich erschienen 1979, direkt nachdem sie eines ihrer kontroversesten Werke, »The Sadeian Woman« veröffentlichte. Die Kernthese in diesem absonderlichen Buch ist, dass die Werke von De Sade eines der frühsten feministischen Werke überhaupt war. Nur jemand wie Angela Carter kann so etwas behaupten und dann auch noch überzeugend dafür argumentieren. Überdies war sie eine extrem talentierte Autorin eigener Geschichten und Bücher und auch noch eine bekannte Märchensammlerin (»Angela Carter’s Book of Fairy tales« versammelt immer noch die besten internationalen Märchen zwischen zwei Deckeln!). Quasi die eierlegende Wollmilchsau unter den feministischen Autorinnen. Wenige schaffen es in wenigen Sätzen so überzeugend vielschichtige Charaktere zu erschaffen und das mit einer ganz eigenen Art und Weise zu schreiben zu kombinieren. Ihre Sätze lesen sich wie Poesie, mit blumigen Metaphern, Beschreibungen und vielen Vergleichen. Muss man mögen – Ich liebe es. mehr
Und jetzt kommt das beste: Ihre Stories sind verdammt sexy. So dass einem ganz warm um die Ohren wird, aber ohne Schamröte und gar nicht peinlich. In »Die blutige Kammer« reinterpretierte sie bekannte Märchen, wie Blaubart, Rotkäppchen, der Erlkönig und andere, aber mit ihrem ganz eigenen, feministischen Twist. Manchmal zart, manchmal vulgär, manchmal gruselig aber immer besonders. Die deutsche Ausgabe ist übrigens illustriert von herrlich unheimlichen Bildern der Künstlerin Julia Kissina.
Man merkt, dass Carter vorher die Sadeian Woman herausgegeben hat und sich bei so manch einer Neuerzählung auf ihre Erkenntnisse daraus bezieht und sie kurzerhand anwendet, um so feministische Thesen zugänglich macht, ohne sich stundenlang durch Sachbücher quälen zu müssen. Dabei nimmt sie die klassische Rollenverteilung, die sich sonst in Märchen tummelt und wirft sie gemeinsam mit dem erhobenen Zeigefinger der Moral kurzerhand über Bord. Nicht umsonst zählen zu ihren Fans Margaret Atwood, Ian McEwan, Joyce Carol Oates und – besonders berühmt – Esther Grüne.
Zuletzt aktualisiert: 08.10.2025
Wenn Esther Grüne nicht gerade in der Otherland Buchhandlung arbeitet, bis zum Hals in Recherche über Hauntology, oder der kulturellen Funktion von Endzeit-Fantasien steckt, ist sie freie Künstlerin, die in Berlin lebt. In ihren Gemälden setzt sie sich mit Albtraum-Landschaften, Mark Fisher-Theorien und Objekt-Onthologien auseinander und füllt alles, was einen Motor hat, mit neuen Bedeutungen. Eine ihrer derzeitigen Obsessionen ist Motorradfahren.