Erinnern und Schreiben. Oder Schreiben und Erinnern.
Fünf grandiose Bücher, in denen die Erinnerung zur Protagonistin wird.
Wie funktioniert Erinnerung? Warum erinnern wir uns an manches verschwommen, an anderes detailliert? Was erzählen die Lücken in der Erinnerung über uns, die wir vergessen haben? Was wird weiter erzählt, und was verschwiegen? Und wie lässt sich darüber schreiben? Was passiert mit der Erinnerung, wenn wir Schreibenden sie in Literatur kleiden? Fünf Autor:innen, die diesen Fragen in einer Genauigkeit, einer Ehrlichkeit und einer Tiefe nachgehen, dass es sich wie ein Geschenk anfühlt, diese Zeilen lesen zu dürfen.
Das Jahr des magischen Denkens
/ Oktober 2005Wie funktioniert Erinnerung? Warum erinnern wir uns an manches verschwommen, an anderes detailliert? Was erzählen die Lücken in der Erinnerung über uns? Was wird weiter erzählt, und was verschwiegen? Und wie lässt sich darüber schreiben? Was passiert mit der Erinnerung, wenn wir Schreibenden sie in Literatur kleiden? Fünf Autor:innen, die diesen Fragen in einer Genauigkeit, einer Ehrlichkeit und einer Tiefe nachgehen, dass es sich wie ein Geschenk anfühlt, diese Zeilen lesen zu dürfen, sollen hier vorgestellt werden.
Warum lesen?
Weil es weh tut. Weil es zurecht weh tut. Und weil das, was aus dem Schmerz entstand, magisch ist.
Erinnerung eines Mädchens
/ 1. April 2016Ich hätte auch jeden anderen Text von Annie Ernaux wählen können, weil sie alle nämlich eines vermögen: Sich selbst befragen. Die eigenen Worte, die Erinnerung, das Denken, die Zeit, was die Zeit verschleiert, verbirgt, die Möglichkeit eines Erzählers. Annie ist 18 Jahre alt und arbeitet in einer Ferienkolonie, wo sie sich - wie sollte es anders sein? - verliebt. Mit H. erlebt sie ihr erstes Mal, woraufhin sie H. ignoriert, als hätte es die Nacht nicht gegeben. Jahrzehnte später setzt sich Annie Ernaux mit der Scham auseinander und der Erinnerung an diese, befragt die eigene Sozialisierung und dieses Ereignis, das sich für immer in sie brennt.
Warum lesen?
Annie Ernaux denkt im Schreiben und mutet das auch uns zu, dass wir im Lesen denken. Und hinterfragen. Und stolpern. Und erschrecken. Und uns erinnern.
Was das Leben kostet
/ 5. April 2018Eigentlich passiert nicht viel. Eine Trennung, eine Scheidung, wie viele gibt es davon? Eine Mutter stirbt, auch schon tausende Male erzählt. Und dennoch: Nicht so. Nicht so nah, nicht so ehrlich, nicht so fragend, nicht, als stünde da jemand - die Protagonistin oder ich selbst, wenn ich den Roman lese - plötzlich nackt, ungeschminkt, ungeschützt vor einem. Deborah Levy hält die Zeit fest, in der ihr Leben - oder das, was sie dafür gehalten hat - auseinander bricht. Und sie stellt dabei die dringenden Fragen unserer Zeit: Wer bin ich als Frau? Wer bin ich - oder zu was wurde ich gemacht? Wo beginnt Einsamkeit, und wo hört Freiheit auf?
Warum lesen?
Weil diese kurzen Episoden, in denen meist Alltag fest gehalten wird - ein Fahrrad wird gekauft, ein Essen gekocht - alles über das Leben erzählen, was es zu wissen gibt. Weil jeder Satz eine Freude ist, und ich immer noch nicht verstanden habe, wie so viel Weisheit in so kurze Texte passen kann.
Nach dem Gedächtnis
/ 8. Dezember 2017Aus Fundstücken schafft Maria Stepanova ein literarisches Meisterwerk, aus Erinnerungen ein historisches Porträt, aus einem Rechercheprozess einen thematisch unfassbar weit verzweigten Essay, aus Worten eine eigene Sprache. Die Autorin macht sich auf die Suche nach der Geschichte ihrer russisch-jüdisch-europäischen Familie, nimmt die Lesenden mit auf die Recherchereise genau so wie in die eigenen Gedanken- und Verstehensprozesse und in die Frage hinein: Was Gedächtnis bedeutet, und wozu es uns verpflichtet.
Warum lesen?
Weil ich kaum Texte kenne, die so weit und so tief und so voll sind gleichermaßen. Dass man gar nicht weiß, was man zuerst erfassen könnte: Die kunstvolle Sprache, die Gedankenprozesse, die Fragen zwischen den Zeilen oder die Mosaikstücke europäischer Geschichte. Man muss sich Zeit nehmen für diesen Roman, man muss ihn Zeile für Zeile l-e-s-e-n. Genau in dieser Langsamkeit, in diesem Respekt.
Auf Erden sind wir kurz grandios
/ 4. Juni 2019Der Brief eines Sohnes an eine Mutter. Der Brief eines Sohnes, der Wortzusammenhänge schaffen kann, dass man innehalten muss beim Lesen, Luft schnappen, an eine Mutter, die nicht lesen kann. Ocean Vuong erinnert sich, eigentlich an die Liebe. Obwohl die Liebe oft nicht schön ist, auf den ersten Blick, in diesen Geschichten. Wie seine Mutter ihn schlug, um ihm beizubringen, sich gegen andere zu wehren, weil sie ihm nicht helfen konnte, eine Fremde in diesem Land. An die schizophrene Großmutter, die ein Stück Vietnam für ihn aufbewahrt. An den amerikanischen Jungen, den er liebte, und der tragischerweise starb.
Warum lesen?
Weil Ocean Vuong zaubern kann. Weil der Roman ein Gedicht ist, was so nicht stimmt, es ist ein Werk, das alle Genre-Grenzen überschreitet. Weil er so liebevoll von Gewalt erzählt, dass mir das Herz zerreißt. Weil einmal lesen nicht reicht (ich habe es drei Mal gelesen, direkt hintereinander.)
Zuletzt aktualisiert: 11.12.2023
Lena Gorelik, geboren 1981 in Sankt Petersburg, kam 1992 zusammen mit ihrer russisch-jüdischen Familie als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland. Sie ging in Baden Württemberg zur Schule. Nach ihrer Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München absolvierte sie den Elitestudiengang „Osteuropastudien“.