3G
Literatur der dritten Generation
Mit dem Verschwinden der letzten Zeitzeug*innen von Zweitem Weltkrieg und Shoah erlangen seit einigen Jahren die Enkel*innen sowohl der Opfer als auch der Täter*innen und Zuschauer*innen des Nationalsozialismus zunehmend literarische Präsenz. Die meist in den 1970er und 1980er Jahren Geborenen sind oft die letzten, die noch direkt mit dem kommunikativen Gedächtnis derer, die »dabei« waren, in Kontakt treten konnten. Sie befinden sich daher in der einzigartigen und herausfordernden Situation, denn sie haben zugleich eine lebendige Verbindung in die Vergangenheit und eine Verantwortung für die Zukunft der Erinnerung. Zwischen der Verpflichtung gegenüber historischen Tatsachen und dem Bewusstsein einer mit der Zeit immer unausweichlicheren medialen Vermitteltheit von Erinnerung sucht die sogenannte dritte Generation nach neuen Umgangsformen und Ausdrucksweisen, nach eigenen Stimmen und Positionierungen. Anders als noch für die zweite Generation geht es dabei weniger darum, vergangenes Leid und vergangene Verbrechen zu bezeugen oder zu dokumentieren, sondern vielfach auch um die Frage, wie historisches Wissen übermittelt wird. Das Schreiben der dritten Generation zeichnet sich deswegen durch ein hohes Maß an Selbstreflexion aus: Literarische Spurensuchen, Recherchen und Familiengeschichten – mal autobiografisch, mal fiktional – dienen weniger der Rekonstruktion von Geschichte als der Konstruktion von Selbsterzählungen mit starkem Gegenwartsbezug.
Die elf Buchempfehlungen dieser Leseliste stammen von elf Mitgliedern des Forschungsnetzwerks »3G. Positionen der dritten Generation nach Zweitem Weltkrieg und Shoah in Literatur und Künsten der Gegenwart«. Sie speisen sich aus einer wesentlich umfangreicheren Bibliografie einschlägiger Texte, die von Autor*innen der dritten Generation stammen und/oder die Positionen der dritten Generation literarisch gestalten und befragen.
»Die Enkelin oder Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste«
/ 2013
In ihrer autobiografischen Erzählung schildert Channah Trzebiner, 1981 in Frankfurt/Main geboren und aufgewachsen, was es für sie bedeutet, als Enkelin von Shoah-Überlebenden »ein Ersatz für ermordetes Leben zu sein.« Im Zentrum ihres Interesses steht die Darstellung transgenerationeller Traumatisierung und ihrer Auswirkungen auf die zweite und vor allem die dritte Generation. In dialogreichen Alltagsszenen – teilweise auf Jiddisch und Englisch – beschreibt Trzebiner ihr von omnipräsenten Erinnerungen an die Shoah geprägtes Familienleben. Das Buch stellt den Versuch einer Benennung ihrer Traumatisierung durch das Trauma der Großeltern dar und damit auch der Befreiung von der Allgegenwärtigkeit der Geschichte der Shoah, die die Ich-Erzählerin-Autorin wie ein »schwarzes Loch« in sich fühlt. Zudem nimmt Trzebiners Nachdenken über die Folgen der Shoah auch die Nachkommen der Täter*innen und Zuschauer*innen des Nationalsozialismus in den Blick, wobei ihr Bewusstsein der gegenwärtigen Wirksamkeit der Vergangenheit sie wiederholt in Konflikt mit nichtjüdischen Deutschen ihrer Generation bringt, die vermeiden oder versäumen, sich für die eigenen Familiengeschichten zu interessieren.
Warum lesen?
Weil dieser autobiografische Bericht über die transgenerationell spürbaren Folgen der Shoah begreifbar macht, wie dringlich die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgung und Ermordung auch für die dritte Generation sein kann. Und weil Trzebiner nicht nur ihre eigene Position als Enkelin von Überlebenden verständlich macht, sondern sich auch um ein Verständnis der Folgen des Schweigens auf der »anderen Seite« bemüht.
[Luisa Banki]
»Gewässer im Ziplock«
/ 2023
Die fünfzehnjährige Margarita wächst bei ihrem israelischen Vater, dem Kantor Avi, in Berlin auf. Die Sommer verbringt sie meistens bei ihren Großeltern in Chicago und langweilt sich dort fürchterlich ohne ihre Freunde. Mit der Langeweile ist es vorbei, als sie zu ihrer Mutter Masha nach Israel fliegt – die sie seit Kleinkindertagen nicht mehr gesehen hat und die prompt die Verabredung am Flughafen vergisst. In der Konfrontation der drei Generationen von Jüdinnen zwischen Israel, Nordamerika und Europa, zwischen traumatischer Vergangenheit und dem Gefühlschaos eines Teenagers stellt sich für Margarita schließlich die Frage, was eigentlich jüdische Identität ist. Gleichzeitig muss sich aber auch Avi die Frage stellen, wie er als Israeli und praktizierender Jude in Berlin leben möchte.
Warum lesen?
Weil das Buch aus der glaubhaft dargestellten Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens die jüdische Gegenwart in den 2020er-Jahren schildert. Dabei entwickelt diedialogzentrierte, schnelle Erzählung zunehmend einen eigensinnigen Humor. Auch findet der Text immer wieder poetische Formulierungen wie den Titel »Gewässer im Ziplock« – Tränen, verschüttete Coca Cola auf der Hose, die verschiedenen Ozeane oder nur eine rauschende Dusche? Alles verschwimmt im ständigen Zustand des Unterwegsseins und gerinnt zu Erinnerungen, die schließlich in einen Ziplockbeutel passen. Wer sich für eine zeitgemäße literarische Darstellung der dritten Generation nach der Shoah interessiert, muss diesen Roman lesen.
[Caspar Battegay]
»Der Russe ist einer, der Birken liebt«
/ 2012
In ihrem Erstlingsroman entwirft die 1984 in Baku geborene Autorin ein vielfältiges Ensemble transkultureller und polyglotter Figuren, in dessen Zentrum die Protagonistin Masha steht. Genau wie ihre (post)migrantischen Freund*innen konterkariert sie mit diversen kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten vermeintlich eindeutige nationale, kulturelle und religiöse Identitäten sowie traditionelle Gender-Modelle und sexuelle Orientierungen. Neben der Auflösung statischer Identitätszuschreibungen handelt die Geschichte von der gemeinsamen polyphonen Sprachlosigkeit der Figuren und von individuellen Traumata. Handlungstreibendes und zugleich retraumatisierendes Moment ist dabei der überraschende Tod des Lebenspartners der Ich-Erzählerin, der sie veranlasst, von Frankfurt nach Tel-Aviv und ins Westjordanland zu reisen, wo sie von ihren unvermittelten Erinnerungen an die Pogrome des Bergkarabach-Konflikts, die sie als Kind miterlebt hat, eingeholt wird. In Flashbacks werden Erinnerungsbruchstücke mit der erzählten Gegenwart überblendet und so mündet die Erzählung in eine Orientierungslosigkeit, in der trennscharfe Grenzen nicht nur zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Zuschreibungen verschwimmen.
Warum lesen?
Weil das Buch im Kontext individueller Migrationserfahrungen ein pointiertes transkulturelles Geflecht traumatischer Referenz- und Fluchtpunkte zur Darstellung bringt, in dem nationale und kulturelle Grenzen an Gültigkeit verloren haben und es radikal dazu auffordert, gesellschaftlich tradierte Zuschreibung neu zu befragen.
[Joshua Biro]
»Konzert für die Unerschrockenen«
/ 2013
In ihrem autofiktionalen Debütroman entwirft Bettina Spoerri, 1968 in Zürich geboren, die Porträts zweier Frauen aus zwei Generationen. Als ihre Großtante Leah stirbt, fährt Anna von Zürich nach London zur Beerdigung und erhält dort Leahs Tagebücher. Im Folgenden wechselt die Erzählung zwischen Annas Alltag in London, Zürich und Berlin und Leahs Leben als Jüdin und Cellistin zwischen Wien, Shanghai, Palästina und England. Die Ich-Erzählerin Anna integriert in den Text Einschübe aus Leahs Tagebüchern, setzt Schilderungen alter Fotografien in Form sprachlicher Ekphrasis ein und rekurriert auf Anton Tschechows Prosa, Max Rothkos Bilder und die skulpturalen Installationen Rebecca Horns. Zugleich ruft sie Szenen und Erinnerungsbilder aus ihrem Gedächtnis ab, die den wenigen Gesprächen mit der Großtante sowie Erinnerungen an Konzerte und Leahs Cellospiel gelten. Vor dem Hintergrund der Erinnerungsarbeit wird auf der Gegenwartsebene des Romans auch Annas Porträt entworfen.
Warum lesen?
Weil aus dem Erinnerungsarchiv ein lebendiges Bild einer außergewöhnlichen Frau entsteht, die nach der Shoah in Musik und Kunst ein Mittel fand, der Katastrophe zu begegnen, und weil in Spoerris Text die Kunst zum Medium wird, das Wichtigste, oft kaum Aussprechbare auszudrücken.
[Małgorzata Dubrowska]
»Adas Raum«
/ 2021
In diesem Roman begegnen wir Ada 1459 zu Beginn der portugiesischen Kolonialherrschaft in dem Land, das heute Ghana genannt wird, 1848 als Mathematikerin in einer Affäre mit Charles Dickens in London, 1945 als Zwangsprostituierte in einem Konzentrationslager und 2019 auf Wohnungssuche in Berlin. Ada wird durch diese (Zeit)Räume hinweg von einem Wesen begleitet, das verschiedene Objekte bewohnt, aber keinen eigenen Körper besitzt. Den kann es erst erlangen, wenn es das wertvolle Armband Adas an den richtigen Ort bringt. Das Gelingen dieser Aufgabe scheitert immer wieder an den Lebensumständen Adas, die in jedem Jahrhundert mit Herausforderungen kämpft, die sie zuletzt ihr Leben kosten: die Erwartung des Mutterseins, die Ansprüche der Männer und die Gewalt des historischen Moments. Der Umgang mit der Vergangenheit wird in diesem Roman transkulturell aufbereitet und in Schleifen miteinander verknüpft. Adas Schicksale erschließen Unterdrückungserfahrungen von Frauen auf verschiedene Weise (als Opfer der Kolonialherren oder der Nazis, als vom Patriarchat eingeschränkte weiße Angehörige der Oberklasse oder als Schwarze Person in Europa) und erweitern damit das Verständnis von Erinnerungskultur um die unentwirrbaren Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Holocaust sowie das notwendige Miteinander von Feminismus und Antirassismus.
Warum lesen?
Weil die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten der Vergangenheit unser Verständnis von Erinnerungskultur erweitern und deutlich machen, wie diese transkulturellen Phänomene auf unsere Gegenwart einwirken.
[Joela Jacobs]
»Ewig her und gar nicht wahr«
/ 2020
Ein in Fragmenten erzähltes, fragmentarisch bleibendes Buch, das zwischen verschiedenen Zeiten, Orten und Sprachen springen muss, um eine jüdische Familiengeschichte in Bessarabien, Usbekistan, Moldawien, Rumänien, Berlin und Israel zu skizzieren. So entstehen Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Generationen zwischen der Flucht vor den vorrückenden deutschen Truppen 1941, der Rückkehr und der erneuten Migration nach 1990. Leitmotivisch kreist die Erzählerin dabei um das ebenso individuelle wie transgenerationelle Gefühl der Verlorenheit, des Nichtverstehens und des Nichtverstandenwerdens. Eine gemeinsame Sprache dafür finden die Familienmitglieder kaum, mehr als einmal treten fremdsprachige Lied- und Gedichtfetzen an die Stelle kohärenter Kommunikation. Die Aufgabe zu verstehen wird so von der Erzählerin auch an die Leser*innen weitergegeben.
Warum lesen?
Weil die Erzählerin in ihrer nationalen, territorialen und sprachlichen Unzugehörigkeit schließlich Halt in einem rumänischen Zitat ihres Landsmannes Paul Celan findet, das weder sie noch ihre durchschnittlichen deutschen Leser*innen verstehen. Und wegen des ebenso flapsigen wie abgründigen Satzes „Zum Glück konnte Celan auch Deutsch“, der dazu auffordert, die transkulturellen Verflechtungen deutsch-jüdischer Literaturgeschichte im Lichte aktueller postmigrantischer Schreibpositionen neu zu reflektieren.
[Esther Kilchmann]
»Vielleicht Esther«
/ 2014
Mit ihrem Debüt hat die 1970 in Kiew geborene Autorin ein faszinierendes Kaleidoskop autobiografischer Geschichten vorgelegt. Es handelt sich um ein Buch über den Versuch einer Rückkehr wie auch über das Reisen und Suchen in den Trümmerfeldern der eigenen jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte. Die Nachverfolgung der weit verteilten Spuren dieser Geschichte führt die Erzählerin nicht nur in ihre Heimatstadt Kiew, in der auch die titelgebende – und auf dem Bachmann-Wettbewerb 2014 preisgekrönte – Episode über ihre von den Nazis ermordete jüdische Großmutter situiert ist, sondern ebenso nach Berlin, Warschau, Moskau, Odessa und Mauthausen. Petrowskaja hat ein sehr persönliches Buch geschrieben, doch finden sich darin auch allgemeine Erfahrungen, etwa der Recherche in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung, in höchst einprägsamer Weise dargestellt. Vor allem aber ist es ein Buch über den Zauber der Vermischung von Sprachen, insofern sich die Erzählerin immer wieder von sehr subjektiven Assoziationen russischer, ukrainische, griechischer und deutscher Begrifflichkeiten leiten lässt und hierbei in nachgerade zauberhafter Weise neue Formen des Sagens und Beschreibens findet.
Warum lesen?
Weil die Vielfalt der Zusammenhänge, Orte und Perspektiven, die Petrowskaja in ihrem Erstling zusammengefügt hat, immer wieder neue Lektürewege ermöglicht. Dies gilt gerade auch für ihre Sicht auf die Ukraine und Russland, die heute, in Zeiten eines weiteren erbitterten Krieges, eine Differenzierung des Blicks ermöglicht, wie sie im allgemeinen Schwarzweiß der Kriegsberichterstattung allzu schnell verloren zu gehen droht.
[Andree Michaelis-König]
»broken german«
/ 2016
Tomer Gardis Roman fällt auf mehreren Ebenen aus dem Rahmen einer etablierten Sprache und Literatur und sorgt für zahlreiche Irritationen. Das von der Kritik kontrovers diskutierte, »fehlerhafte« Deutsch auf der einen Seite, die Figurenverwirrung, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und textinterner Realität, die Wendungen und Narrationsbrüche sowie die Vermischung verschiedener Textsorten auf der anderen Seite – all diese Besonderheiten des Romans zeigen, dass sowohl der Autor als auch sein Text diverse Austritte aus tradierten (Kultur-)Diskursen literarisch realisieren und zum Thema machen. Broken German erzählt in Form von kurzen, nicht chronologisch aufgebauten Episoden von einer Vielzahl von Figuren, die sich wie der unzuverlässige Erzähler in einem dezidiert (post)migrantischen Berlin bewegen und sich mit Fragen kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten auseinandersetzen.
Warum lesen?
Gardi und seine Erzählfiguren kommen gleichsam »von außen« in die deutsche Sprache und Literatur. Dabei geben sie ihre Außenseiterposition nicht preis, sondern machen gerade diese zu ihrer wesentlichen literarischen Waffe, mit der sie Möglichkeiten des Sprechens, Schreibens über Vergangenheit und Gegenwart erweitern und bereichern. Der die Normen der (Schrift-)Sprache missachtende Prosatext dekonstruiert das Paradigma der deutschen »Leitkultur« und unterläuft das »Reinheitsgebot« der Sprache als Garant einer gelungenen Integration.
[Anna Rutka]
»Fluchten«
/ 2022
Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren und später in Hamburg aufgewachsen, lebt seit einigen Jahren als freier Autor in der Schweiz. Er schreibt für verschiedene deutschsprachige Zeitungen und veröffentlicht Sammlungen kurzer, kürzerer und kürzester Texte mit klingenden Titeln wie Handwörterbuch der russischen Seele (2021). Fluchten ist bereits seine siebte Buchveröffentlichung und widmet sich dem titelgebenden, hochaktuellen Thema aus allen nur erdenklichen menschlichen Perspektiven. Unter dem spürbaren Eindruck des Angriffskrieges in der Ukraine stehen historische Fluchtgeschichten neben Alltagserfahrungen, skurrile Begebenheiten wechseln sich ab mit tragischen Schicksalen. Die Textsorten wechseln munter zwischen Kurzgeschichte, Anekdote, Parabel und Witz. Fluchten lässt sich ebenso nach- wie durcheinander lesen. Dabei treten die einzelnen Texte auf ganz unterschiedliche Weise in ein Gespräch ein, das von Fluchtlinien und Fliehkräften durchzogen ist – mal sehr konkret, mal eher metaphorisch. Die über den Band verteilten, geometrischen Ausschnitte aus abstrakten Gemälden von Nikolai Estis ergänzen diese Konversation der Texte um einen intermedialen, intergenerationellen Dialog zwischen Kunst und Literatur, zwischen Vater und Sohn.
Warum lesen?
Weil die Literatur der dritten Generation nicht nur aus autobiografischen Familienromanen und der Suche nach den eigenen Wurzeln besteht und weil Alexander Estis ein literarisch überzeugendes Plädoyer für die kleine Form liefert, bei der reichlich Raum für eigene Gedanken und überraschende Korrespondenzen bleibt.
[Sebastian Schirrmeister]
»A replacement life«
/ 2014
Debütroman des 1979 in Minsk geborenen Autors. Der Protagonist Slawa ist ein sowjetisch-jüdischer Einwanderer in New York und ein aufstrebender junger Autor bei einem hochkarätigen New Yorker Magazin (einem fiktiven New Yorker oder Harpers). Nach dem Tod seiner Großmutter wird Slawa von seinem Großvater angestiftet, sein literarisches Talent dafür zu nutzen, gefälschte Shoah-Biografien für diesen und andere russisch-jüdische Einwanderer zu schreiben, damit sie Entschädigungsansprüche geltend machen können. Während Slawa darum ringt, die komplexen Erfahrungen und Verhaltensweisen der Generation seiner Großeltern (geprägt von Weltkrieg, Shoah, Antisemitismus und Korruption in der sowjetischen Gesellschaft) zu verstehen, hinterfragt er seine eigene Identität im Verhältnis zur amerikanischen und amerikanisch-jüdischen Gegenwart, in der er sein eigenes Leben führt.
Warum lesen?
Fishmans Roman beschäftigt sich mit Kernthemen der Shoah-Erinnerung und der Migration in der dritten Generation sowie mit tiefgreifenden Fragen nach Authentizität und Aneignung. Es ist ein humorvolles und ehrliches Buch, das uns herausfordert, über Fiktion als Rache, als Wiedergutmachung oder als Form von Gerechtigkeit nachzudenken.
[Jonathan Skolnik]
»Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte«
/ 2021
Stella Leder, die 1982 im Berliner Westen geboren wurde, erzählt in ihrer autobiografischen Erzählung eine multiperspektivische deutsch-jüdische Familiengeschichte, die Ost- und Westdeutschland verbindet: Ihr Großvater war der Schriftsteller Stephan Hermlin, die Mutter Bettina Leder wuchs in der DDR auf, reiste aber 1977 aus. Sie ist – wie bereits der Titel anzeigt – eine zentrale Bezugsfigur, aber auch die Rechten, denen Leder immer wieder begegnet. Der Mann im Garten steht für die Erinnerung, die schemenhaft, allgegenwärtig und doch unzuverlässig scheint, aber auch für die verwobenen historischen Schichten, denn er ist – zumindest in der Imagination des Kindes – gleichzeitig Stasi- und SA-Mann. Leder entwickelt das Verhältnis zur Mutter nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern als eines zwischen den Generationen: Während die zweite eine Generation der Archivare sei, die die Geschichte von Shoah und Nationalsozialismus erforsche und zum konkurrenzlosen Fixpunkt ihres Lebens mache, dabei aber doch leise und unsichtbar blieb, sei die dritte Generation eine laute. Laut ist Leders Buch nicht, aber klar und präzise – nicht nur in seinen Analysen, sondern vor allem in den szenischen Beschreibungen, in denen das postnationalsozialistische Deutschland so deutlich vor Augen tritt, dass es keines erläuternden Kommentars mehr bedarf.
Warum lesen?
Weil Leders ost-west-deutsche Familienerzählung neue Perspektiven eröffnet: Die »Baseballschlägerjahre‘ fanden eben nicht nur im Osten, sondern auch in der hessischen Peripherie statt. Die Nazis sind nicht zurückgekommen, sie waren nie (ganz) weg. Das Buch bietet eine scharfe Analyse der Generationenverhältnisse einer deutsch-jüdischen Familie nach der Shoah sowie der antisemitischen Ressentiments in Ost- und Westdeutschland, die Leder auch auf eine anhaltende Schuld- und Erinnerungsabwehr zurückführt.
[Lea Wohl von Haselberg]
Zuletzt aktualisiert: 10.12.2024
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte wissenschaftliche Netzwerk widmete sich von 2020 bis 2024 der Erforschung von Literatur und Kunst der dritten Generation. Nähere Informationen zu den wissenschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen des Netzwerks sowie den Publikationen, die aus der gemeinsamen Arbeit hervorgegangen sind, finden sich unter https://3g.hypotheses.org