Der 1971 verstorbene Philosoph Georg Lukács gehört zu den herausragenden Theoretikern der modernen Ästhetik im 20. Jahrhundert. Von ihm ging eine breite Wirkung auf die intellektuelle Diskussion seiner Zeit aus, lieferte er doch das grundlegende Fundament für eine gesellschaftlich reflektierte Debatte um Ästhetik. Die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts ist ohne seine Schriften unverständlich. Dennoch ist seine Rezeptionsgeschichte keine einfache, sondern gekennzeichnet von Brüchen und Rückschlägen. Lukács war ein kosmopolitischer Mensch und Vertreter einer europäisch-jüdischen Denktradition, der sich zeitlebens eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt hat. Das setzte ihn immer wieder Verdächtigungen aus.
So ist Lukács’ Ästhetik für marxistische Dogmatiker im Ostblock in ihrem Beharren auf einen maßgeschneiderten „sozialistischen Realismus“ immer wieder zum Anstoß geworden. Im Westen erfreute er sich ohnehin nur für kurze Zeit einiger Popularität. Antisemitisches Ressentiment, antikommunistische Engstirnigkeit und Vorurteile haben es dem Philosophen und der unvoreingenommenen Rezeption seines Werkes schwergemacht.
In Ungarn kann man in den vergangenen Jahren und gegenwärtig verfolgen, wie sehr Lukács’ aufgeklärtes Denken noch immer beargwöhnt und unterdrückt wird. Der Denker kommt in seinem Heimatland akademisch kaum noch vor. Eine Statue in der Hauptstadt wurde entfernt. Das Archiv mit seiner Nachlassbibliothek und seinen Manuskripten wurde für die Öffentlichkeit verschlossen und das Personal entlassen. Es ist nicht davon auszugehen, dass es anlässlich seines fünfzigsten Todestages am 4. Juni 2021 irgendeine Form des öffentlichen Erinnerns geben wird. Immer wieder wurde Lukács im öffentlichen Diskurs verschwiegen. Nun droht er komplett in Vergessenheit zu geraten. So wie auch die Generation der Schülerinnen und Schüler, die noch eine lebendige Erinnerung mitteilen konnten, um mit der im vergangenen Jahr verstorbenen Ágnes Heller nur ein Beispiel zu nennen. Und auch die Schriften von Lukács drohen zu verschwinden. Sie werden unzugänglich, sie werden weder verlegt noch gelesen, und mit der Zerstörung des Archivs wurde ein weiterer Schritt getan, diesen Zustand zu verfestigen.
Statt musealen Gedenkens braucht es eine lebendige Auseinandersetzung mit diesem großen europäischen Theoretiker. Das bedeutet, das Werk auf seine Aktualität hin zu befragen, Anschlussmöglichkeiten zu prüfen und in die Diskussion zu gehen. In der Regel wird Lukács primär als Theoretiker des modernen Romans verbucht. Umso aufschlussreicher ist es, im Rahmen einer Neuentdeckung seines Schaffens seine Schriften speziell zum Theater in den Blick zu nehmen. Denn der Aspekt des Theaters spielt bei Lukács eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht nur wirkte er in seinen jungen Jahren als Theaterkritiker, auch seine Einwürfe zu einer Theorie des Realismus sind verschiedentlich in Theaterwissenschaft sowie Medientheorie wieder aufgegriffen worden. Mit dem Projekt „Re-reading Lukács – Georg Lukács und das Theater“ soll eine umfassende, langfristige Diskussion angestoßen werden. Lukács soll – als impulsgebende intellektuelle Kraft und in kritischer Auseinandersetzung – auf die Bühne (des Theaters) zurückkehren. Und das nicht nur fünfzig Jahre nach seinem Tod, sondern in einem Moment, in dem reaktionäre Kräfte ihn aus dem europäischen Gedächtnis zu tilgen versuchen. Hier wird die Aneignung selbst zur widerständigen Praxis und das Wiederaufnehmen einer Diskussion zur Manifestation intellektueller Offenheit gegen die diskursive Schließung.
Projektleitung: Jakob Hayner und Erik Zielke
Begleitend erscheint im Verlag Theater der Zeit der Reader »Georg Lukács: Texte zum Theater« (Berlin 2021).