Sozialer Aufstieg in der postmigrantischen Literatur der Gegenwart
Autosoziobiografien gelten im Literaturbetrieb als das »Genre der Stunde«. Sie erzählen zum einen vom gesellschaftlichen Aufstieg einer Figur und dem sich damit ändernden Verhältnis zur eigenen sozialen Herkunft. Zum anderen verbinden sie die Erzählung des eigenen Werdegangs mit überindividuellen Gesellschaftsperspektiven und einer soziologischen Reflexion sozialer Verhältnisse. Obschon Autosoziobiografien mit Armut und Klassenstrukturen sozial Verdrängtes thematisieren, ist die Diskussion um das Genre nicht ohne blinde Flecken. Den (mindestens impliziten) Bezugspunkt bildet meist die Zeit der westeuropäischen Industriegesellschaft der Nachkriegszeit – ein historischer Abschnitt, der oft mit relativer sozialer Sicherheit, verlässlichen Aufstiegschancen und breiter Bildungsexpansion assoziiert wird. Weitgehend unberücksichtigt bleiben dagegen kulturelle Differenzen und die Frage der räumlichen Herkunft. Insbesondere für Autor*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund bilden sie Faktoren, die unabhängig von der Klassenherkunft den eigenen Lebensweg determinieren. So ist in den vergangenen Jahren – abseits der Genregrößen Annie Erneaux, Didier Eribon und Eduard Louis – eine Fülle von Werken entstanden, die aus postmigrantischer Perspektive das Genre erweitern und es zudem grundlegend hinterfragen. Denn wie kann man die eigene Erzählung in eine Gesellschaft einfügen, deren Kollektiverzählungen einen womöglich gar nicht adressieren? Wie erarbeitet man sich eine Identität, die immer schon Zuschreibungen von außen ausgesetzt ist? In welchem Zusammenhang stehen Migrationsgeschichte und Klassenherkunft? Welche Hürden ergeben sich beim sozialen Aufstieg oder dessen Versuch? Wie findet man unter diesen Bedingungen eine Erzählstimme? Und welche neuen gesellschaftlichen Selbsterzählungen werden dadurch ermöglicht? In dem Seminar diskutieren wir solche und ähnliche Fragen anhand von Auszügen aus Texten von Fatma Aydemir, Dinçer Güçyeter, Martin Kordić, Ilija Matusk, Karosh Taha, Mely Kiyak u.a.
- Termine: Freitag, 18.10. und 01.11. um 11:00–16:00 Uhr
- Anmeldung: per Mail an campus@lfbrecht.de. Die Teilnahme ist kostenlos.
- Die Teilnehmer*innenzahl ist begrenzt.
- Die Texte werden über einen Reader zur Verfügung gestellt.
- Das Seminar gehört zum Programm der lfb school.
Dr. Philipp Böttcher ist Studienrat an der Universität Duisburg-Essen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin. Er publizierte u.a. zu literarischen und soziologischen Narrationen der Klassengesellschaft.