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09.02.11
20:00
Vorträge und Diskussion

Ursula Elsner und Bernhard Spies


Moderation: Sonja Hilzinger
Veranstaltungsort: Literaturforum im Brecht-Haus

Ursula Elsner: Johanna von Orléans in Anna Seghers‘ Hörspiel „Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431“ (1937): Frau in Männerkleidern, Ketzerin, Widerstandskämpferin, Märtyrerin?

 

Dieses weitgehend auf den Prozessakten von 1431 basierende Hörspiel gehört zu den wenig rezipierten Werken Seghers´. Erstmals im Flämischen Rundfunk gesendet (1937), in Exilzeitschriften gedruckt, von den Alliierten im Nachkriegsdeutschland verboten (u.a. mit der Begründung, die Deutschen könnten es zum Anlass nehmen, die Nürnberger Prozesse zu hinterfragen), wurden 1950 (Radio DDR) und 1959 (NDR) neue Fassungen gesendet, und 1975 edierte der Leipziger Reclam-Verlag eine Buchausgabe mit Fotos aus Dreyers Stummfilm „La Passion de Jeanne d’Arc“ (1927). Das Gesicht der Jeanne-Darstellerin Maria Falconetti hatte Seghers beim Schreiben stark inspiriert. Liest man den Text heute, stellen sich vielfältige literarische und historisch-politische Kontexte ein: Johanna von Orléans und Katharina Rendel – Frauen in Männerkleidern; Jeanne d’Arc und Jan, „Der gerechte Richter“, Spanischer Bürgerkrieg, Prozesse des Volksgerichtshofs gegen deutsche Antifaschisten, Moskauer Schauprozesse – worauf spielt Seghers an, wie weit dürfen Lesarten gehen?

 

 

Bernhard Spies: Die Bestellung eines neuen Volks. Brechts Bearbeitung von Seghers‘ Hörspiel „Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431“

 

Der bürgerliche Aufklärer Voltaire, der in seinem satirischen Epos „La Pucelle“ (1735) den nationalen Mythos der Jeanne d’Arc demontierte, beschädigte dabei auch die Aura des Nationalen. Sozialistische Autoren neigen eher dazu, die Aura der französischen Nationalheiligen wohlwollend aufzugreifen; natürlich, um ihr einen eigenen Sinn zu verleihen – so schon Shaw in „Saint Joan“ (1923), so auch Seghers in ihrem Hörspiel (1937). Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (1931) bildet da eine gewisse Ausnahme. Es ist aber nicht die hier geübte Religions- und Klassikerkritik, woran die Bearbeitung des Seghers-Textes anknüpft, sondern die Bedeutung der Johanna als Vorkämpferin einer nationalen Erhebung, die Brecht stärker betont als der Seghers-Text. Darin steckt durchaus ein Rätsel. War nicht erst wenige Jahre zuvor eine Menschenschlächterei zu Ende gegangen, die in einem historisch bis dahin ungekannten Ausmaß mit dem patriotischen deutschen Volk veranstaltet und bis zum bitteren Ende durchgehalten wurde? Woraus speist sich Brechts Hoffnung des Jahres 1952, dass in einem Volk, welches sich gegen eine Fremdherrschaft patriotisch zusammenschließt, eine Garantiemacht gegen die Wiederholung solcher Blutbäder zu finden sein könnte?