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„mir scheint ich bin vorläufig / aber was / läuft nach?“
© Irina Rastorgueva

13.02.19
20:00
Vorträge

„mir scheint ich bin vorläufig / aber was / läuft nach?“

Mit Franziska Thun-Hohenstein und Irina Rastorgueva
Veranstaltungsort: Literaturforum im Brecht-Haus

Warlam Schalamow (1907-1982), dessen „Erzählungen aus Kolyma“ über die Geschehnisse in den Lagern am Kältepol der Erde erst in jüngster Zeit die ihnen gebührende Anerkennung fanden, bezieht sich mehrfach auf Brecht. Hinter jeder Nennung steht die Wertschätzung für Brechts Suche nach neuen dramatischen Ausdrucksformen, die das Erkenntnispotential des Theaters in Zeiten der Extreme schärfen. Blickt man auf Schalamows eigene ästhetische Programmatik, so rücken die Positionen beider – jenseits der Frage nach einem direkten Einfluss – in eine bisweilen überraschende Nähe. Zuletzt sichtbar u.a. in der Münchner Inszenierung „Am Kältepol“ von Timofej Kuljabin, der Schalamows Erzählungen für die Bühne bearbeitet hat. „Ästhetische Distanztechniken bei Schalamow und Brecht“, so lautet der Titel des Vortrags von Franziska Thun-Hohenstein. Es handelt sich um eine collageartige Spurensuche, die Spannungen aufscheinen lässt und einen Echo-Raum eröffnet: Einerseits geht es um die Tradition des russischen Agitproptheaters „Die blaue Bluse“, für das sich der junge Schalamow in den 1920er Jahren begeisterte und dessen künstlerische Prinzipien Brecht aus seiner Sicht verallgemeinert habe. Andererseits geht es um Schalamows Faszination für Brechts Abkehr vom Theater der Einfühlung, von der Ästhetik des Sozialistischen Realismus, die „den Terror unter dem Erbarmen, die Lagerkälte unter der humanistischen Wärme“ versteckte (J. Rancière). Schalamows Bruch mit der herkömmlichen realistischen Literaturtradition geschah vor dem Hintergrund des im Lager Durchlebten. Er suchte nach ästhetischen Distanztechniken, um über den Menschen in einem Raum zu berichten, in dem das „Minimalprogramm der Humanität“ (W. Benjamin) außer Kraft gesetzt ist.  Die Berührungspunkte zwischen den Denkhaltungen beider sind evident und für die aktuelle Rezeption ihrer Texte (insbesondere Schalamows) jenseits des rein thematischen Moments zu erarbeiten.

 

"Brecht#Platonow, eine unerwartete Osmose", so ist der Vortrag von Irina Rastorgueva überschrieben.  Andrei Platonowitsch Platonow und Eugen Berthold Friedrich Brecht wurden 1898 mit einer Differenz von sechs Monaten geboren; der eine als zehntes Kind eines Lokomotivführers im westrussischen Woronesch, der andere als erster von zwei Söhnen eines aufsteigenden Prokuristen einer Papierfabrik in Augsburg am Lech. Beider Mütter arbeiteten im Haus, Brechts Mutter unterstützt von einer Magd. Brechts Großvater mütterlicherseits war Eisenbahner – so viel familiäre Gemeinsamkeit war vorhanden. Beide, Brecht und Platonow, erlebten Beginn und Zusammenbruch der Vorkriegsmoderne-Kultur, den Ersten Weltkrieg, Revolutionen. Beide sahen mit staunenden Augen elektrische Lampen aufleuchten und Flugzeuge fliegen. Beide liebten, ein Auto zu fahren, Brecht konnte sich eins leisten. Beide waren fasziniert von der kommunistischen Idee, beide wurden im bzw. vom Sowjetstaat enttäuscht. Beide waren zur Emigration gezwungen, Platonow blieb nur die innere. In ihren Werken sind soziale Probleme von der Absurdität der Situation durchsetzt, die Realität ist prall grotesk und nie tragisch, ohne komisch zu sein. Beide waren ästhetisch unbedingte Erneuerer. Brecht konnte seine Erfolge wahrnehmen, seine Experimente wo nicht selber, von anderen probieren lassen. Platonow starb fünf Jahre vor Brecht, der 1955 den Stalin-Friedenspreis in Moskau entgegennahm, von dem sein sowjetischer Kollege nicht geträumt haben dürfte. Für tiefergreifende Rezeption war Platonow auf sein Nachleben angewiesen. Die Texte aus den Stücken – auch Platonow war Dramatiker, sogar Drehbuchautor – sind mitunter derart ähnlich, die Dialoge erschreckend deckungsgleich, dass es für Nichtexegeten teilweise schwierig ist, zu sagen, welcher Autor den Figuren ihre Dialoge in die Münder schrieb. Und dennoch haben sie sich nie getroffen, auch als Leser dürften sie sich nie begegnet sein – zumindest Brecht Platonow nicht.



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Biographisches:


Franziska Thun-Hohenstein, geboren 1951. Studium der russischen Sprache und Literatur an der Lomonossow-Universität Moskau von 1969 bis 1973, Promotion 1981 in Berlin. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaft der DDR in Berlin. Von 1996 bis 2001 am Zentrum für Literaturforschung. 2001/02 wiss. Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Seit Januar 2003 wiss. Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in verschiedenen Projekten. 2008 bis 2015 Leiterin des Forschungsbereiches Plurale Kulturen Europas. Seit 2016 Leiterin des Forschungsprojekts: „Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik“. Publikationen (Auswahl): „Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation“. Berlin 2007. Franziska Thun-Hohenstein ist Herausgeberin der deutschen Ausgabe der Werke von Warlam Schalamow (Nachworte und Kommentare) bei Matthes & Seitz Berlin. Sie publizierte zahlreiche Aufsätze zur sowjetischen Literatur, insbesondere zu Leben und Werk von Warlam Schalamow.


Irina Rastorgueva, geboren 1983 in Juschno-Sachlinsk, lebt in Moskau und Berlin. Studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin, arbeitete als Kulturjournalistin für mehrere russische Zeitschriften und Radiosender, war 2005/06 sowie 2011 bis 2015 Dozentin für Journalistik an der Staatlichen Universität Sachalin. Sie gründete 2015 das Kulturmagazin ProSakhalin. Von 2013 bis 2015 war sie Künstlerische Produktionsleiterin des Festivals Far-Eastern Theatre Forum in Sachalin und Sapporo, 2011 bis 2017 Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin. 2017 Teilnahme an der Gruppenausstellung „Benjamin und Brecht. Denken in Extremen“ mit der Installation „Zweibahnstraße“ (mit Thomas Martin und J.M. Birn) an der Akademie der Künste. 2018 Ausstellung „Kommunalka 55“ (mit Thomas Martin) in der Galerie BQ Berlin. „Haben Sie von Carola gehört?“, in Kooperation mit Memorial Moskau, ist ihr erster abendfüllender Animationsfim.

In Kooperation mit dem Goethe Institiut
Medienpartner: Kulturradio vom rbb